Eine Erwiderung auf den Debattenbeitrag „Friede den Wächtern“ von Christoph Spehr von Ulrike Eifler, Jan Richter und mir.
In seinem Beitrag „Friede den Wächtern“ prägt Christoph Spehr den Begriff des pazifistischen Bellizismus. Vordergründig nimmt er zwar Sahra Wagenknecht, Sevim Dağdelen und Klaus Ernst ins Visier. Tatsächlich aber zielt er auf alle in der Partei DIE LINKE, die sich gegen Waffenlieferungen und die Eskalationsgefahr stellen. Er unterstellt, dass diejenigen, die die Sanktionspolitik gegenüber Russland kritisieren und sich gegen Waffenlieferungen aussprechen, dies tun, weil sie in Wahrheit den Krieg gar nicht beenden wollen. Es gäbe viel zum Debattenstil des Beitrages zu sagen, insbesondere wenn behauptet wird, diese Positionen seien mit denen der AfD austauschbar. Doch der strategische Klärungsprozess in der LINKEN sollte sich auf den politisch-inhaltlichen Fokus der Auseinandersetzung beschränken. Dieser liegt im Beitrag Spehrs auf drei Argumentationsfeldern: der Frage nach den Kriegsursachen, der Frage nach der Legitimität von Waffenlieferungen sowie auf der Frage nach der Kompromissbereitschaft beider Seiten als Voraussetzung für Friedensverhandlungen.
1. Ist der Verweis auf die Vorgeschichte des Krieges eine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges?
Die Antwort darauf ist ein klares Nein. Völlig unumstritten ist, dass Russland diesen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat, als russische Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert sind. Die Verantwortung für den Krieg liegt also allein bei Russland. Der Verweis auf die Vorgeschichte, die eng verknüpft ist mit der NATO-Osterweiterung und einer interessengeleiteten EU-Nachbarschaftspolitik ist jedoch kein relativierendes „Aber“, sondern trägt zum Verständnis der aktuellen Kriegsdynamik bei. Dazu gehört auch die Betrachtung, wie sehr sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse nach dem Zusammenfall des Ostblocks verändert haben. Während Russland in den letzten dreißig Jahren wirtschaftlich und außenpolitisch stark an Einfluss verlor, sind die USA in einer zunehmend multipolaren Weltordnung als einzige global wirkmächtige Weltmacht übrig geblieben. Gleichzeitig bedroht der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas die US-amerikanische Vormachtstellung. Die EU steckt in einem gewissen Dilemma: die realen Kräfteverhältnisse drängen zu einer Verstärkung der transatlantischen Beziehung zu den USA, zugleich streben die europäischen Eliten eine größere Eigenständigkeit, inklusive einer stärkeren Militarisierung an, weil auch die USA kein verlässlicher Garant ihrer Interessen sind. Der Krieg in der Ukraine befördert beides. DIE LINKE ist gut beraten, wenn sie sich nicht auf eine der beiden Seiten stellt, sondern den Krieg vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Veränderungen einordnet. Nur so können wir verstehen, warum die Friedensbemühungen und Verhandlungen im März/ April letzten Jahres gescheitert sind und warum es mehr öffentlichen Druck für eine Beendigung des Krieges braucht.
2. Verlängern Waffenlieferungen den Krieg oder verkürzen sie diesen?
Wir sollten zur Kenntnis nehmen: Die Debatte über Waffenlieferungen hat sich verändert. Schloss die Bundesregierung anfangs noch die Lieferung schwerer Waffen aus, wird mittlerweile über die Lieferung von Langstreckenwaffen und Kampfjets diskutiert. Die Debatte kann nicht losgelöst von den skizzierten geopolitischen Interessenlagen geführt werden. Das zeigten nicht zuletzt die Diskussionen auf der Münchner Sicherheitskonferenz oder im EU-Parlament. Sie machen deutlich, dass es dem Westen schon lang nicht mehr um das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine geht, sondern darum, dass die Ukraine den Krieg gewinnen und Russland langfristig schwächen soll. Dieses Ziel ließe sich „nur durch die kontinuierliche, dauerhafte und stetig zunehmende Lieferung von Waffen ausnahmslos aller Gattungen an die Ukraine“ erreichen, heißt es in einem Entschließungsantrag, den das Europäische Parlament erst kürzlich mit großer Mehrheit beschlossen hat. Darin werden die 27 EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, die militärische Unterstützung der Ukraine „erheblich zu verstärken“ und die Entsendung von Kampfjets „ernsthaft in Erwägung zu ziehen“. Der ukrainische Außenminister Kuleba fordert mittlerweile sogar Streumunition und Phosphor-Brandwaffen. Ähnlich verändert hat sich auch die Debatte über die Sanktionspolitik der EU. So sollen Sanktionen nicht mehr nur gegen Russland verhängt werden, sondern auch gegen Drittländer, die „mit Russland kollaborieren“. Die Debatten innerhalb der EU haben sich auch deshalb verändert, weil die EU-Staaten keine neutralen Akteure sind, sondern in diesem Konflikt eigene Interessen verfolgen und einen klaren Sieg der Ukraine mit einem anschließenden Regimewechsel in Moskau anstreben. Diese Entwicklung kann zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges führen. Erst kürzlich hat der Nachrichtensender CNN unter Berufung auf Geheimdienstquellen darauf hingewiesen, dass die Ukraine auch eine Art „Waffenlabor“ sei, in dem die USA studieren, wie Kriege zwischen zwei Industrienationen im 21. Jahrhundert ausgestattet sein müssen.
Immer mehr Waffenlieferungen beenden den Krieg nicht, sondern rücken einen Frieden in weite Ferne. Vor allem ist eine derart eskalative Situation nicht kontrollierbar, wie schon die Entwicklungen des vergangenen Jahres bewiesen haben. Selbst Militärs warnen vor der Eigendynamik in der aktuellen Debatte, die auf eine „Rutschbahn“ führen könne, an deren Ende sich die NATO und Russland in einem direkten Krieg gegenüberstünden. Immer mehr Panzerlieferungen eskalieren den Konflikt immer weiter. Derweil steigen die Zahlen der getöteten russischen und ukrainischen Soldaten und unter der ukrainischen Zivilbevölkerung immer weiter. Hunderte verlieren täglich ihr Leben.
3. Ist es illegitim, zur Lösung des Krieges Verhandlungen und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten zu fordern?
Auch hier ist die Antwort ein klares Nein, denn ohne Friedensverhandlungen wird dieser Krieg nicht zu beenden sein. Friedensverhandlungen abzulehnen und gleichzeitig das Waffenarsenal der Ukraine immer wieder nachzufüllen, bedeutet in Kauf zu nehmen, dass die Ukraine weiter zerstört und damit das Leben der ukrainischen Bevölkerung weiter gefährdet wird.
Die Forderung nach einer Stärkung der diplomatischen Initiativen wird nicht nur von Mitgliedern der LINKEN vorgetragen, sondern ist auch immer wieder von Wissenschaftlern wie dem Politologen Prof. Johannes Varwick oder auch aus den Reihen ranghoher Militärs zu hören. So hat der ehemalige NATO-General Harald Kujat sich wiederholt für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ausgesprochen und dabei auch erklärt, dass der Preis für den Frieden neben der Neutralität der Ukraine und dem Verzicht auf die Stationierung ausländischer Truppen vermutlich auch ein territoriales Zugeständnis hinsichtlich der Regionen Luhansk und Donezk sei. Kujat leitet seine Einschätzung vor allem aus dem Verlauf der Istanbul-Gespräche vom März 2022 ab. Damals soll sich die russische Seite bereit erklärt haben, ihre Truppen auf den Stand vom 23. Februar zurückzuziehen. Ob diese Kompromisslinie heute noch aktuell ist, lässt sich nur am Verhandlungstisch zeigen.
Der Begriff des pazifistischen Bellizismus eignet sich nicht, der kontroversen friedenspolitischen Debatte in der Partei DIE LINKE eine konstruktive Wendung zu geben. Der Begriff diffamiert diejenigen, die für ein Ende der Eskalationsspirale und gegen eine Politik der Unumkehrbarkeit eintreten. Er schließt vielmehr an das an, was der Leiter der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung, Karl Heinz Paque, kurz nach Kriegsbeginn folgendermaßen ausdrückte: „Der (bedingungslose) Pazifismus darf nicht wieder auferstehen.“ Die Zeitenwende-Debatte vom 27.2.2022 ordnet er daher wie folgt ein: „Die NATO-Partner in West und Ost danken es mit Applaus. (…) Eine große Chance für das wertegebundene Militärbündnis des Westens!“ Aus dieser Perspektive geht es um „Chancen“ für die NATO, nicht um Frieden für die Ukraine.
Auch wir haben Kritik an den Positionen von Sahra Wagenknecht und ihrer standortnationalistischen Sicht. Wir kritisieren, dass Alice Schwarzer gar nicht grundsätzlich gegen Waffenlieferungen ist, und sehen die beschränkte Perspektive eines Erich Vad, der lediglich auf einen anderen europäischen Imperialismus setzt. Und trotzdem hatten die drei mit ihrer Initiative vom 25.2. Recht. Sie haben dem berechtigen Unmut in Teilen der Bevölkerung über die Eskalationspolitik der Bundesregierung Ausdruck verliehen. Eine Aufgabe, der sich auch DIE LINKE widmen sollte.
Christoph Spehr unterstellt denjenigen, die ihre Kritik vor allem an die Bundesregierung und das eigene „Lager“ richten – ohne die Verantwortung der russischen Führung zu relativeren – eine Entsolidarisierung mit den Angegriffenen. Er meint, diejenigen gehörten deshalb auf keine Friedenskundgebung. Diese ungeheure Diffamierung ist infam und durchschaubar zugleich. Sie scheint vor allem ein Ziel zu haben: Der Forderung nach Waffenlieferungen als moralisch alternativlos darzustellen. Das ist sie nicht.