Hunderttausende Menschen haben Sahra Wagenknechts und Alice Schwarzers »Manifest für Frieden« unterschrieben. Die Initiatorinnen rufen zum Protest auf die Straße. Wie sollten Linke mit dem Aufruf umgehen? Ein Gespräch mit Christine Buchholz über die Stärken und Schwächen des Manifestes und die Rolle der Linken
Das »Manifest für Frieden« hat innerhalb von wenigen Tagen eine halbe Million Unterstützerunterschriften bekommen. Wie bewertest Du das?
Es ist absolut positiv, dass die Stimmen in der Gesellschaft lauter werden, die sich den lauten Rufen nach Waffenlieferungen entgegenstellen. Ein Jahr nach dem russischen Überfall tobt ein Krieg um die Ukraine, der unermessliches Leid und Tod gebracht hat. Wir brauchen eine starke Antikriegsbewegung, die ausdrückt, was viele denken: »Stoppt den Krieg, Stoppt die Eskalation, Nein zu Waffenlieferungen!« und damit Druck auf die Bundesregierung macht.
Warum ausgerechnet jetzt?
Die Münchner Sicherheitskonferenz beginnt am Freitag, und wie auf den Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe, bei denen die ukrainische Regierung sich mit den Verteidigungsministern der Nato-Staaten und anderer verbündeter Staaten abspricht, wird auch auf der Sicherheitskonferenz der Ruf nach mehr schwerem Gerät, mehr Munition, Kampfflugzeugen und Langstreckenraketen laut werden.
Der Leiter der Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, hat schon Kampfflugzeuge für die Ukraine gefordert, wünscht sich mehr deutsche »Führung«. Wir können uns also darauf einstellen, dass ein Jahr nach Kriegsbeginn die Kriegspropaganda hochgefahren wird. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass es eine Reihe von Aufrufen für lokale Aktionen am 24. und 25. Februar gibt. Deswegen begrüße ich auch das »Manifest für Frieden« und den Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, zu einer Kundgebung am 25.2. in Berlin zu mobilisieren.
Aber Russland hat doch die Ukraine überfallen. Ist es richtig, jetzt von der Eskalation durch den Westen zu sprechen?
Putin trägt die volle Verantwortung für den Angriff auf die Ukraine. Aber der Krieg hat einen Doppelcharakter. Er ist ein berechtigter Kampf um das Selbstbestimmungsrecht von Ukrainer:innen gegen eine imperiale Besatzungsmacht. Aber er ist eben auch ein Stellvertreterkrieg von Nato, USA und EU gegen ihren imperialen Konkurrenten Russland. Letzteres hat zu einer gefährlichen Eskalation geführt. Um den Krieg zu beenden, muss man verstehen, was die Triebkräfte dahinter sind. Ohne die Logik der imperialistischen Konkurrenz ist das nicht zu verstehen.
Inwiefern?
Die Reaktionen des westlichen Blockes gießen nur Öl ins Feuer. Das reicht von den Waffenlieferungen und dem umfangreichen Sanktionsregime über die Nato-Truppenverschiebungen an der Ostgrenze zu Russland bis zu den massiven Aufrüstungsplänen der einzelnen Staaten. Diese Politik ist eine Sackgasse, weil sie die Eskalationsspirale weiter anheizt und den Menschen – weder in der Ukraine noch weltweit – keinen Frieden und keine Gerechtigkeit bringt. Es ist fatal, immer mehr Waffen in diesen Krieg zu schicken. Das ist übrigens der Punkt, wo ich mit dem Aufruf von Wagenknecht und anderen übereinstimme.
Wo stimmst Du denn nicht überein?
Der Aufruf hat Schwächen. Den Bezug auf die Eidesformel »Schaden vom deutschen Volk wenden« finde ich unnötig. Es leidet nicht das »deutsche Volk« an sich. Die deutsche Rüstungsindustrie und andere Kapitalfraktionen verdienen ordentlich an diesem Krieg. Wir sollten darauf hinweisen, dass es vor allem die Lohnabhängigen und die Armen in der Ukraine, in Russland, aber auch in anderen Ländern der Welt sind, die in diesem Krieg sterben und die unter diesem Krieg leiden.
Was stört Dich noch an dem »Manifest für Frieden«?
Die Militarisierung und massive Aufrüstung der Bundeswehr wird dort mit keinem Wort erwähnt. Angesichts fehlender Gelder in Schulen, Krankenhäusern und im öffentlichen Dienst ist das aus linker Sicht ein wichtiges Anliegen.
Warum?
Verteidigungsminister Boris Pistorius will den Militärhaushalt noch weiter vergrößern und fordert pro Jahr 10 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Der »Spiegel« beruft sich auf Pistorius‘ Planer, die befürchteten, dass Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr schmälern könnten.
Manche innerhalb der Linken wollen deswegen nicht zur Kundgebung gehen. Die richtige Reaktion?
Auch wenn der Aufruf die Frage der Aufrüstung nicht beinhaltet, müssen wir diesen Punkt stark machen. Linke haben mit der Mobilisierung zum 25.2. die Chance, ihre eigenen Positionen gegen den Krieg, Waffenlieferungen und gegen die massive Aufrüstung in die Öffentlichkeit zu tragen. Nicht hinzugehen finde ich keine Option.
Es ist wirklich wichtig: Wir dürfen den Protest gegen den Krieg und die Waffenlieferungen nicht der AfD überlassen. Momentan nutzen die Rechten dieses Thema, um aufzubauen. Das ist natürlich völlig unglaubwürdig, aber leider in Teilen erfolgreich.
Aber AfD-Chef Chrupalla hat das »Manifest für Frieden« unterzeichnet…
Dass Tino Chrupalla den Aufruf unterzeichnet hat, war ein Problem, denn mit Faschist:innen ist kein Frieden zu machen. Deshalb ist es gut, dass Sahra Wagenknecht öffentlich klargestellt hat, dass Unterstützung von der AfD nicht erwünscht ist, dass Nationalfahnen, AfD-Fahnen und rechte Symbole auf der Demonstration nichts zu suchen haben und Ordner das auch durchsetzen.
Nun hat Chrupalla inzwischen getwittert, dass er gar nicht vorhatte an einer linken Demo teilzunehmen und dass die AfD ihre eigenen Friedenskundgebungen organisieren würde. Alles gut?
Es wird natürlich Teile der rechten Szene geben, die versuchen werden, die Demo zu instrumentalisieren. Entscheidend ist aber, viele Linke mit ihren Transparenten und Fahnen zu mobilisieren, um Rechte zu marginalisieren. Zu Beginn der Hartz-IV-Proteste haben Nazis versucht, die Demos zu kapern. Es war wichtig, dass Linke sich damals nicht ferngehalten haben, sondern um die Hegemonie in den Protesten gekämpft haben.
Oskar Lafontaine wird vorgeworfen, in einem Video-Interview die Abgrenzung nach rechts aufzuweichen, weil er gesagt hat: »Jeder, der reinen Herzens für Frieden ist, ist eingeladen«. Damit richtete er sich auch explizit an AfD-Wählende. Was denkst Du darüber?
Oskar Lafontaine möchte ehemalige LINKE oder SPD-Wähler:innen, die aus Protest die AfD wählen, zurückgewinnen. Und klaro: Die LINKE hat noch nie eine »Gesinnungsprüfung« gemacht, wer auf Demonstrationen kommen darf. Wie soll das auch gehen? Aber Lafontaine macht hier trotzdem einen Fehler.
Warum?
Er hätte klar sagen müssen, dass Nazis, die vorgeben, für Frieden zu sein, nicht erwünscht sind. Er hat in dem Interview zwar gesagt, dass Reichsbürgerfahnen nicht erwünscht sind und der Protest nicht instrumentalisiert werden darf. Aber das ist zu wenig. Auch AfD-Politiker:innen und AfD-Fahnen werden nicht toleriert. Sein ganzes Herangehen zeigt, dass er die Gefahr, die von der AfD als organisierte, im Kern faschistische Kraft ausgeht, unterschätzt. Und sein Blick ist zu sehr auf AfD-Protestwähler:innen gerichtet. Bessere wäre es, die vielen Nichtwählenden oder LINKE-, SPD- oder Grüne-Wählenden im Blick zu haben. Unter ihnen gibt es sehr viele Menschen, die gegen Waffenlieferungen sind. Ich nehme Sahra Wagenknechts Äußerung beim Wort, dass AfD und Faschist:innen nicht erwünscht sind und dass ein Ordner:innendienst das auch durchsetzt.
Ein Argument gegen den Aufruf lautet: Die Feministin Alice Schwarzer und der Brigadegeneral a.D. Erich Vad seien Rechte, mit denen man nicht demonstrieren könne.
Es gibt Leute, mit denen ich lieber demonstrieren würde. Aber wir müssen auch sehen: Durch die kriegstreiberische Rolle von SPD und Grünen werden viele Personen beeinflusst, die sich in ihrem Dunstkreis befinden, und die in der Vergangenheit für Frieden und Abrüstung auf die Straße gegangen sind. Leute lehnen aus sehr unterschiedlichen Gründen die aktuellen Waffenlieferungen und die Eskalationspolitik hab. Ich denke, wir müssen diese Spaltungen in der Gesellschaft produktiv nach vorne wenden, auch wenn wir mit einigen der Bündnispartner:innen sonst nicht viel gemein haben. Ich bin eine der schärfsten Kritikerinnen von Alice Schwarzers Position zum Islam und zum Kopftuch. Sie befeuert Vorurteile gegen Muslime – z.B. wenn sie fordert, dass aus Afghanistan nur Frauen und Kinder, aber keine Männer in Deutschland aufgenommen werden sollen. Aber nur, weil ich mit ihr gegen Waffenlieferungen und Eskalationsgefahr demonstriere, mache ich mir doch nicht ihre anderen Positionen zu eigen.
Was ist mit Erich Vad?
Erich Vad ist kein Antimilitarist. Im Gegenteil. Er steht für einen von den USA unabhängigen europäischen Imperialismus unter deutscher Führung. Das bringt ihn zum Teil in Widerspruch zu der Politik der Bundesregierung, die auf eine andere Art und Weise versucht, die Interessen des deutschen und europäischen Kapitalismus durchzusetzen. Die mangelnde Einsatzbereitschaft der Bundeswehr führt Erich Vad auf einen seiner Ansicht nach zu beklagenden und zu bekämpfenden »Strukturpazifismus« der Deutschen nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und auf den Einsatz der Bundeswehr im Afghanistankrieg zurück. Das alles ist abzulehnen. Aber es tut dem deutschen Imperialismus natürlich weh, wenn einer von ihnen die aktuelle Politik kritisiert. Das zu nutzen ist nicht ehrenrührig, wenn man seine eigene Position nicht unter den Teppich kehrt. Seine Einschätzung zum Krieg, die von seiner militärischen Sicht geprägt sind, sind interessant und helfen, die Gemengelage zu verstehen. Die Friedensbewegung hatte übrigens immer Militärs in ihren Reihen, die keine Antimilitaristen waren, aber die Widersprüche der herrschenden Politik zum Ausdruck gebracht haben.
Vad hat 2003 einen Artikel in der neurechten »Sezession« veröffentlicht…
Das ist richtig, auch wenn er 2010 erklärt hat, dass er das zu dem Zeitpunkt nicht noch einmal gemacht hätte. Aber es ist klar: Vad gehört zum rechtskonservativen Flügel des deutschen Militärs. Er hat wie viele in der CDU kulturrassistische und migrationsfeindliche Positionen vertreten. Eins ist aber wichtig: Anders als andere rechte Militärs hat er in den letzten Jahren den Schritt zur AfD nicht mitgemacht. Deswegen finde ich es vertretbar, an einer Kundgebung teilzunehmen, auf der Erich Vad redet.
Wenn wir die Kundgebung groß machen, nützt das nur Sahra Wagenknecht.
Dass der Aufruf so erfolgreich ist, liegt auch daran, dass DIE LINKE und die verschiedenen Teile der Friedensbewegung nicht adäquat auf die Herausforderungen des Krieges reagiert haben und so ein Vakuum entstanden ist, dass Wagenknecht und Schwarzer füllen. Ich würde es anders herum sehen: Wenn die Linke klein und groß geschrieben nicht aufruft, nicht präsent ist und mit eigenem Material interveniert, nimmt sie sich selbst nicht nur aus der Debatte, sondern versagt auch dabei, sich als eine Alternative zum Establishment aufzubauen. Sahra Wagenknecht äußert berechtigte Kritik an der Eskalationsspirale von Waffenlieferungen und Sanktionen. An diesem Punkt sind wir einer Meinung. Gleichzeitig werde ich mir ebenso wenig ihre standortnationalistischen Positionen zur deutschen Wirtschaft oder ihre Zugeständnisse nach rechts, beispielsweise in der Migrationsfrage, zu eigen machen.
Kann es nicht sein, dass hier eine neue Querfront entsteht?
Es gibt rechte Kräfte wie das Compact-Magazin von Elsässer und andere, die über so genannte Querfronten die extreme Rechte aufbauen wollen. Es gibt die Erfahrung der großen Demonstrationen in Prag, an denen sich Linke wie Rechtsradikale beteiligt haben. Und auch in Teilen der LINKEN gibt es eine Offenheit für Bündnisse mit Rechten. Das schließt andere Kräfte von den Bündnissen aus und führt weg von einer Klassenpolitik, wie wir sie als LINKE entwickeln wollen. Für uns muss es heißen: Weder Putin noch Nato – Solidarität mit dem Widerstand gegen den Krieg international. Linke sollten solche Bündnisse verhindern, weil sie nicht zum Erfolg führen. Weil aber der Militarismus der Herrschenden so hemmungslos ist und die Sorge in der Bevölkerung wächst, halte ich es unter den aktuellen Bedingungen für unabdingbar, sich nicht ins Abseits zu stellen und zugleich in der Mobilisierung die Forderung gegen Waffenexporte und Aufrüstung stark zu machen. Es wäre zudem enorm wichtig, den Kampf gegen Krieg mit dem gegen Teuerung zu verbinden.
Du hast im Parteivorstand beantragt, dass DIE LINKE zu der Kundgebung mobilisiert und dort mit einem eigenen Profil in die Demonstration interveniert. Spaltet das nicht DIE LINKE?
Es ist klar, dass wir sehr unterschiedliche Sichtweisen in der Partei haben. Aber sich nicht zu verhalten ist doch angesichts der Kriegsentwicklung keine Alternative. Ich versuche, sowohl mit Genoss:innen zu sprechen, die explizit für die Teilnahme am 25.2. sind, als auch mit denen, die stark dagegen sprechen. Es ist wichtig, klarzumachen, dass wir alle die AfD und die Rechten marginalisieren wollen und alle die LINKE als Antikriegspartei positionieren wollen. Offenbar sehen wir aber unterschiedliche Wege dahin. So kann man aber die Spaltungslogik aus der Debatte kriegen. Die größte Gefahr ist doch zurzeit, dass die AfD sich weiter als einzige Friedenspartei aufbaut. DIE LINKE muss mit eigenen Schildern und Transparenten auf die Straße mit ihrem Nein zum Krieg, Nein zu Waffenlieferungen und Nein zur Aufrüstung.
Das interview erschien am 16.2.2023 auf Marx21.de