Vor dem Hintergrund des eskalierenden Krieges und dem Bruch der zwischen Moskau und Washington vereinbarten Waffenruhe haben Wolfgang Gehrcke und Harri Grünberg ein Papier zur Situation in Syrien im September 2016 geschrieben. Uns eint der Wunsch nach einem Ende des brutalen Krieges in Syrien. Allerdings gehen unsere Einschätzungen über die Situation in Syrien, sowie das Handeln der so genannten internationalen Gemeinschaft auseinander. Diese Antwort auf das Papier von Harri und Wolfgang versteht sich als ein Diskussionsbeitrag zur weiteren Debatte in Fraktion und Partei mit dem Ziel, die eindeutige Haltung der LINKEN gegen Krieg und militärischen Interventionen von außen zu untersetzen.
 
1. In der Überschrift des Papiers heißt es mit Bezug auf den Zusammenbruch der zwischen Moskau und Washington vereinbarten Waffenruhe „Wie erneut eine Hoffnung zerstört wird“. Das ist leider irreführend. Die so genannte Waffenruhe, die die zwei Großmächte ohne Einbeziehung kämpfender Parteien und über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung hinweg getroffen hatten, war nur eine auf sieben Tage festgelegte Frist, in der sich die russische und amerikanischen Streitkräfte auf die Definierung gemeinsamer Ziele festlegen wollten. Es war die erste Etappe eines Plans, der im Weiteren auf das gemeinsame Bombardement von Rebellengebieten hinauslief. Bislang haben wir aus Prinzip alle Bombardements durch äußere Mächte in Syrien abgelehnt – auch auf Gebiete, die unter Kontrolle des IS stehen. Daran darf sich nichts ändern, ganz gleich, ob die amerikanische und die russische Luftwaffe gemeinsam oder getrennt bombardieren. Bomben bringen weder Frieden, noch stoppen sie Terror.
 
2. Für die Fragilität der Waffenruhe macht das Papier „entscheidende Akteure der bewaffneten Opposition“ verantwortlich, weil die sich gegen den Plan aussprachen, darunter die „bedeutsame, auf den Westen orientierte Gruppierung Ahrar Al Scham“. Der Freien Syrischen Armee wird vorgeworfen, sie sei nicht bereit gewesen, ihre Allianz mit islamistischen bewaffneten Gruppierungen aufzugeben.
Diese Haltung gibt 1:1 die Position Moskaus wieder. Sie ignoriert, dass das Regime seit Jahren Aleppo bombardiert und den Ostteil der Stadt von der Außenwelt abgeschnitten hat. Hunderttausende sind ohne Zugang zu fließendem Wasser, Grundnahrungsmittel wie Zucker sind nicht mehr erhältlich. Der von Moskau und Washington vereinbarte Plan hat die Spaltung des bereits schwachen und eingekesselten Widerstands eingefordert. Dies sollte auf nichts anderes als die rasche militärische Eroberung der eingeschlossenen Stadt hinauslaufen. Es ist völlig logisch, dass sich die gesamte bewaffnete Opposition nicht auf dieses Spiel des Teile-und-Herrsche eingelassen hat.
Im Papier wird ignoriert, dass die bewaffneten Rebellen von der eingeschlossenen Bevölkerung als einzige Gegenkraft gegen die aus der Luft bombardierenden syrischen und russischen Kampfflieger und die drohende Eroberung der Stadt durch das unterdrückerische Regime angesehen werden. Ohne die Unterstützung durch die eingeschlossene Bevölkerung würden sich die Rebellen nicht eine Woche länger halten können. Auch im Falle Afghanistan haben wir stets argumentiert, dass es der Nato-Krieg und die korrupte Karsai-Regierung waren, die den Taliban erst ihren sozialen Nährboden verschafften.
 
3. In dem Papier werden weder die russische, noch die syrische Luftwaffe für ihre Verbrechen kritisiert. Die Verantwortung der syrischen oder der russischen Luftwaffe für den Angriff auf den UN-Hilfskonvoi wird pauschal in Frage gestellt. Die Argumentation, die Regierung in Damaskus oder Moskau hätten an dem Angriff kein Interesse gehabt, macht keinen Sinn. Tagelang wurden UN-Hilfslieferungen vom Regime an der Grenze blockiert. Es gibt keinen Anlass zu glauben, dass das syrische Regime irgendein Interesse daran hätte, die Bevölkerung in der eingeschlossenen Stadt zu ernähren.
Der Angriff auf den UN-Hilfskonvoi ist ein Kriegsverbrechen. Er erfolgte zwei Tage nach dem US-Angriff auf eine Einheit der syrischen Armee, weitab von Aleppo im eigenen Operationsgebiet, bei Dair as-Saur. Vieles spricht dafür, dass beide Angriffe gezielt durchgeführt wurden. Der US-Angriff ist zu verurteilen und muss, ebenso wie der Angriff auf den UN-Hilfskonvoi, international untersucht werden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Angriff auf den UN-Konvoi von russischer oder syrischer Seite durchgeführt wurde. Es wäre nicht die erste Bombardierung von Nothelfern. In diesem Jahr haben die russische und syrische Luftwaffe laut Ärzte ohne Grenzen bereits 31 Angriffe gegen 19 Behelfskrankenhäuser geflogen. Vor diesem Hintergrund sind die Ärzte ohne Grenzen dazu übergangen, Hilfsgüter nur noch auf geheimen Wege in Syrien zu transportieren. Anders als in anderen Konfliktgebieten werden auch die Koordinaten zur geografischen Lage der Behelfskliniken nicht offiziell mitgeteilt.
 
4. Im Papier wird behauptet, das „grundsätzliche Problem für einen dauerhaften Waffenstillstand“ bestünde darin, „dass bisher weder die USA noch die EU bereit sind, außer im Falle des IS und der umbenannten Al-Nusra-Front, die anderen islamistischen Gruppierungen als terroristisch einzustufen.“ Das ist Unsinn. Wenn andere Formationen wie die Ahrar asch-Scham als „terroristisch“ eingestuft würden, dann würde das Syrien nicht einen Schritt näher an einen Waffenstillstand, geschweige denn dem Frieden näher bringen. Im Gegenteil kann ein Waffenstillstand nur dort vereinbart werden, wo die Kriegsparteien miteinander reden. Die Forderung, eine Seite als Terroristen einzustufen, ist implizit ein Plädoyer für eine militärische Lösung durch die vermeintlich „nicht-terroristische“ Seite. Dies widerspricht der bisherigen Position der LINKEN.
Im Papier wird die Position des Regimes eingenommen, das jeden bewaffneten Widerstand als „Terror“ einstuft. Tatsächlich verfügt keine der bewaffneten oppositionellen Gruppen über eine Luftwaffe oder die Unterstützung durch eine Luftwaffe. Demgegenüber bombardieren russische und syrische Flugzeuge und Hubschrauber unablässig zivile Ziele im Westen des Landes, die westliche Allianz mit deutscher Unterstützung den Osten des Landes. Darin besteht das „grundsätzliche Problem“.
 
5. Zusammengebrochen ist nicht die Waffenruhe, sondern die Vertiefung des russisch-amerikanischen Arrangements. Der Lawrow-Kerry-Plan sah eine militärische Zusammenarbeit inklusive der Einrichtung eines gemeinsamen Lagebesprechungszentrums in Amman zwischen amerikanischen und russischen Streitkräften vor. Das US State Department unter Kerry war offenbar gewillt, eine Lösung mit Moskau und mit Assad zu Lasten der sogenannten „gemäßigten Opposition“ durchzusetzen, sofern die US-amerikanischen Streitkräfte im Westen des Landes mitbomben können.
Das US-Verteidigungsministerium war gegen diese Absprache. Vieles spricht dafür, dass es der Riss zwischen State Departement und Pentagon ist, die den Ausgangspunkt dafür bildet. Der Angriff auf die syrische Einheit wurde von der US-Luftwaffe durchgeführt, unterstand also dem Pentagon, das scharfe Kritik an der Vereinbarung zwischen Lawrow und US-Außenminister Kerry geübt hatte.
Für die Menschen in Aleppo und den anderen vom Regime befreiten Gebieten bietet weder die russisch-amerikanische Zusammenarbeit, noch der russisch-amerikanische Konflikt „Hoffnung“. Die Offensive, die das russische und syrische Militär, unterstützt vom Iran und der Hisbollah, gegen Aleppo startet, bezeichnen Vertreter der Zivilgesellschaft in Aleppo, die das Leben unter dem Bombenterror zu organisieren versucht, als „Hölle auf Erden“. Es werden Fassbomben, Splitterbomben und bunkerbrechende Bomben eingesetzt. Offenbar ist das Regime gewillt, den Osten Aleppos notfalls komplett zu vernichten, um den Widerstand zu brechen.
 
6. Die im Papier genannten Schlussfolgerungen blicken auf den Konflikt durch die Augen der kriegführenden internationalen Regierungen. Den USA und Russland „eine hohe Verantwortung bei der Widerherstellung der Waffenruhe“ zuzubilligen, wird in den Ohren der bombardierten Bevölkerung wie Zynismus klingen. Die Vereinbarung zwischen der USA und Russland muss keineswegs „in allen ihren sieben Punkten umgesetzt“ werden, denn sie ist eine Verabredung zwischen zwei imperialistischen Mächten für einen gemeinsam zu führenden Krieg.
Die Aussage, „für eine Diskussion zur Einrichtung eines Luftkorridors für humanitäre Hilfe sind wir offen … unter Voraussetzung der Einhaltung der staatlichen Souveränität, der Kontrolle der Grenzen durch die syrische Regierung“, klingt in der aktuellen Situation zynisch. Wir fordern die sofortige Waffenruhe ohne Vorbedingungen, ebenso fordern wir den freien Zugang für humanitäre Lieferungen ohne Vorbedingungen.Nicht die Regierung in Damaskus braucht unsere Solidarität, sondern die von ihr bombardierte Bevölkerung.
 
7. Wir bekräftigen die friedenspolitischen Positionen der LINKEN, dass Krieg kein Mittel der Politik ist und der „Krieg gegen den Terror“ gescheitert ist, weil Krieg selbst Terror ist. Bomben schaffen keinen Frieden.
Die ausländischen militärischen Interventionen von allen Seiten haben den syrischen Konflikt immer weiter und weiter eskaliert. Die Aufgabe der Linken ist es nicht, Partei für irgendeine dieser internationalen Streitkräfte zu ergreifen und ihre Verbrechen zu leugnen, sondern den Bombardierten eine Stimme zu geben. Unsere Aufgabe ist es, Druck auf die deutsche Regierung zu machen: für einen Rückzug der Bundeswehr, für eine Aufstockung der humanitären Hilfsmaßnahmen und eine großzügige Aufnahme von Kriegsflüchtlingen.
 
Folgende Forderungen sollten weiterhin Grundlage unserer Politik sein:
– Sofortiger Waffenstillstand ohne Vorbedingungen
– Sofortige Einstellung aller Luftangriffe
– Abzug aller ausländischen Truppen und Söldner aus Syrien
– Sofortige Beendung des Bundeswehreinsatzes in Syrien und Irak
– Totales Waffenembargo gegenüber aller kämpfenden Parteien, inklusive des Regimes
– Freier Zugang für humanitäre Hilfe zu allen eingeschlossenen Gebieten, ggf. Einrichtung einer humanitärer Luftbrücke
– Unterstützung der demokratischen Opposition in Syrien