Ich habe der türkisch-kurdischen Zeitung „Yeni Özgür Politika“ ein Interview zur deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik gegeben. Hier auf Deutsch:
1.) Was denken Sie ist der Grund für die Tragödie, die in den letzten Monaten geschieht? (Bsp. Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ums Leben kommen)?
Die Zahl, der Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ums Leben kommen, ist in den letzten Monaten massiv gestiegen. Es ist eine Schande, dass immer mehr schutzsuchende Männer, Frauen und Kinder bei dem Versuch, Europa zu erreichen, ihr Leben verlieren. Die europäische Flüchtlingspolitik ist der eigentliche Grund für die schrecklichen Tragödien im Mittelmeer und in Österreich. Die zunehmende Schließung der europäischen Außengrenzen zwingt die Menschen auf lebensgefährliche Fluchtwege, wie z. B. in unsicheren Booten über das Mittelmeer. Es ist diese EU-Politik der Abschottung und Abschreckung, die vielen Flüchtlingen keine andere Wahl lässt, als ihr Leben Schleppern anzuvertrauen.
Statt die Abriegelung der EU-Außengrenzen voranzutreiben und Milliarden Euro für Mauern, Zäunen, Überwachung, Grenzkontrollen und einen Militäreinsatz bereitzustellen, sollten legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge geschaffen werden. Den Flüchtlingen muss es möglich sein, in Europa Schutz zu suchen, ohne sich dabei in Lebensgefahr zu begeben.
2.) Die EU-Länder wollen die Aufnahme von Flüchtlinge begrenzen, manche nehmen gar keine Flüchtlinge auf. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Montag in Berlin, wenn die EU sich nicht auf eine faire Verteilung der Asylsuchenden einigen könne, würden die Freizügigkeitsregeln sicher von vielen in Frage gestellt und die Grenzen würden ggf. geschlossen. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Das Recht auf Asyl in Europa ist ein Menschenrecht und sollte nicht willkürlichen Begrenzungen unterliegen. Es gehört zum Artikel 14 der UN-Menschenrechtscharta, gegen den durch die zahlreichen Einschränkungen jedoch permanent verstoßen wird.
Statt einem unwürdigen Feilschen um Quoten und Aufnahmekontingente brauchen wir in der EU eine koordinierte und nachhaltige Lösung für die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen, die auch die Wünsche der Asylsuchenden selbst berücksichtigt. Das ungerechte und menschenverachtende Dublin-System verhindert nicht nur eine solidarische Verteilung innerhalb Europas, sondern richtet sich vor allem gegen die Interessen der Schutzsuchenden. Ihre Bedürfnisse und Wünsche, wie z.B. soziale Bezüge, Sprachkenntnisse und Lebensperspektive müssen im Mittelpunkt stehen
Eine faire Verteilung bedeutet deshalb vor allem: ein individuelles Asylverfahren in einem frei gewählten Land statt Zwangsüberstellungen. An den Grenzen zu und innerhalb Europas dürfen Flüchtlinge nicht zurückgewiesen und gegen ihren Willen wie unerwünschte Objekte hin und her geschoben werden.
3.) Die Innen- und Justizminister der 28 Staaten treffen sich am 14. September zu einer Sondersitzung in Brüssel. Denken Sie, dass sie zu Verbesserungen für die Immigranten führt?
Das wäre zu hoffen, aber ich befürchte leider nein (siehe oben). Heute z.B. kommen die Regierungschefs von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn in Prag zusammen. Sie wollen vor dem EU-Sondertreffen am 14. September ihre Flüchtlingspolitik abstimmen und eine gemeinsame Erklärung beschließen. In der Presse ist zu lesen, dass sie wahrscheinlich eine verstärkte Überwachung der EU-Außengrenzen und Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Italien und Griechenland vorschlagen wollen. Es ist also zu befürchten, dass EU-Staaten die katastrophale Situation der Betroffenen dazu nutzen, noch restriktivere Maßnahmen durchzusetzen und so die Rechte der Geflüchteten in Europa weiter einzuschränken.
4.) In der vergangenen Woche sagte HDP Ko-Vorsitzender Selahattin Demirtas, dass ein Stopp der Kriege in den Konflikt-Regionen die Voraussetzung für die Lösung der Probleme ist. Was halten Sie davon?
Das ist richtig. Niemand flieht ohne Grund – Kriege, Verfolgung, Armut und Perspektivlosigkeit zwingen Millionen Menschen ihre Heimat zu verlassen. Zu einer grundlegenden Wende der europäischen Flüchtlingspolitik muss die Bekämpfung von Fluchtursachen gehören – nicht die Schaffung neuer Fluchtgründe.
Die Europäische Union und die Bundesrepublik tragen dabei eine große Mitverantwortung für die Situation in den Herkunftsländern. Eine Außenpolitik, die auf zunehmend auf Aufrüstung und Kriegseinsätze setzt, heizt Konflikte an, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. Die Destabilisierung von Ländern wie Libyen, der dauerhafte Kriegszustand in Afghanistan, Syrien, Irak und Jemen können durch zusätzliche Gewalt und Bombardierung nicht gelöst werden können. Deutschland ist der drittgrößter Waffenexporteure. Das heißt, die Rüstungskonzerne hierzulande profitieren von Verschärfung militärischer Konflikte. Während zum Beispiel im Jemen eine Saudi-geführte Kriegskoalition das Land bombardiert, liefert Deutschland bewaffnete Patrouillenboote an Saudi-Arabien. Diese sind geeignet, die bestehende Blockade von Seehäfen im Jemen zu verstärken. Das verschärft die Lebensmittelknappheit und ist einfach nur unmenschlich.
Es kann auch nicht angehen, dass die Bundesregierung weiterhin Erdogan unterstützt, während er die Kurden angreifen lässt. Bei der Bombardierung der Kandilberge durch die türkische Armee werden auch Zivilisten getroffen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie alle führen dazu, dass Fluchtbewegungen ausgelöst werden.
5.) Die Angriffe auf Flüchtlinge in Deutschland nehmen zu. Woran liegt das Ihrer Meinung?
Nazis und Rassisten nutzten die aktuelle Notlage der Flüchtlinge aus. Auch haben die Regierungen in Ländern, Städten und Gemeinden es in der Vergangenheit versäumt, für ausreichenden Wohnraum zu sorgen. Das rächt sich jetzt. Nazis versuchen gezielt, die zum Teil chaotische Unterbringung vor Ort auszunutzen, um darum lokale Kampagnen aufzubauen. Ihre Umtriebe sind aber nicht nur auf Flüchtlinge beschränkt. So nehmen infolge der Pegida-Proteste auch islamfeindliche Übergriffe bundesweit zu.
6.) Wie bewerten bzw. interpretieren Sie die Haltung der Bundesregierung zum Thema „rassistische Angriffe auf Flüchtlinge“?
Rassistische Angriffe auf Flüchtlingsheime nehmen zu. Rechtspopulistische und Gruppen, wie Pegida haben schon seit Langem den Nährboden dafür bereitet, indem sie gezielt rassistische und antimuslimische Stimmungen schüren. Gleichzeitig werden rechte Gruppen und Parteien wie die NPD nur halbherzig bekämpft. Auf der einen Seite werden rassistische Übergriffe öffentlich verurteilt, auf der anderen Seite verfolgt die Bundesregierung selber eine strukturell rassistische Politik, von der die Verschärfung des Asylrechts, bis hin zu Plänen von Abschiebelagern für Roma-Flüchtlinge und einer willkürlichen Festsetzung “sicherer Herkunftsländer“. Die unzureichende Versorgung und die menschenunwürdigen Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften, die Unterbringung in Zelten, Kasernen und Containern am Rande der Stadt sollen den Eindruck vermitteln, dass diese Menschen nicht dazu gehören. Begriffe wie „Flüchtlingsströme“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind entmenschlichend, abwertend und folgen einer rassistischen Logik. Die herrschende Politik zündelt zudem gefährlich mit, wenn von „Asylbetrug“, der Überlastung der Sozialkassen etc. gesprochen wird und so den Menschen suggeriert wird, die Geflüchteten seien an den prekären Lebensverhältnissen in Deutschland schuld. Das stimmt nicht. Es ist deshalb unsere Aufgabe den Menschen zu zeigen, wer die wahren Profiteure von Krisen, Kriegen und Ausbeutung sind.
7.) Was denken Sie, mit welcher Methode ist der wachsende Einwanderungszufluss zu lösen?
Die Menschen, die zu uns kommen, stellen kein Problem dar. Es sind Leute, die arbeiten können und deren Verdienst in den Wirtschaftskreislauf wieder einfließen wird. In den 90er Jahren kamen mehr Migranten denn je in die USA, und dennoch wuchs die Wirtschaft in den USA in diesem Jahrzehnt wieder an. Auch kamen in den 90er Jahren aufgrund der Balkankriege viel mehr Menschen nach Deutschland als heute. Im Übrigen ist die Bundesrepublik eines der reichsten Länder der Welt. Der Reichtum ist jedoch extrem ungleich verteilt. Deshalb wäre es ohne weiteres möglich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Der Bevölkerung gegenüber zu behaupten, die schutzsuchenden Menschen seien Konkurrenten, leitet Wasser auf die Mühlen rechtsextremer Kräfte. Kein Hartz-IV-Empfänger würde auch nur einen Cent mehr bekommen, wenn es keine Flüchtlinge gäbe.
Es ist grundsätzlich im Interesse aller Menschen, dass die von den Arbeiterinnen und Arbeitern geschaffenen Ressourcen innerhalb des Landes, der EU und natürlich auch weltweit gerecht verteilt werden und allen gleichermaßen zugutekommen. Gemeinsam mit den Geflüchteten können wir für ihre und auch unsere Rechte kämpfen. Eine zunehmend ungerechte, neoliberale Weltwirtschaft dagegen schafft immer wieder Krisen, Kriege und somit auch neue Fluchtgründe.