Gemeinsame Erklärung von mir, Werner Dreibus (MdB), Stefanie Graf (Mitglied im Parteivorstand), Nicole Gohlke (MdB, Mitglied im Landesvorstand DIE LINKE Bayern), Claudia Haydt (Mitglied im Vorstand der Europäischen Linken (EL)), Luc Jochimsen (MdB), Caren Lay (MdB, stellvertretende Parteivorsitzende), Bodo Ramelow (MdL, Fraktionsvorsitzender Linksfraktion Thüringen) und Katina Schubert (Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand, Landesgeschäftsführerin DIE LINKE Berlin)  zur Beschneidung von Jungen.

  • Für jüdische und muslimische Bürgerinnen und Bürger ist die Frage existentiell, ob sie zukünftig einen wesentlichen Teil ihrer religiösen und kulturellen Tradition in Deutschland ausüben und in der von ihnen gewählten Art und Weise Beschneidungen von Jungen durchführen können. Hier sind sich konservative und liberale Jüdinnen, Juden, Muslima und Muslime einig.
  • Bei der Debatte um die Beschneidung kleiner Jungen konkurrieren mehrere Rechte miteinander: das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf religiöse Selbstbestimmung, Elternrechte, Kinderrechte. Linke müssen sich in Abwägung der Argumente und Rechtspositionen letztlich politisch positionieren. Leitmotiv dabei ist der gesellschaftliche Zusammenhalt unter Anerkennung und Respekt unterschiedlicher Lebensweisen,Weltanschauungen und religiöser Überzeugungen auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte.
  • Die Beschneidung von Jungen ist nicht vergleichbar mit der genitalen Verstümmelung von Mädchen. Analogien verbieten sich deshalb.
  • Die Debatte um Beschneidung wird begleitet von antisemitischen Klischees. Die Tatsache, dass es in Deutschland einen seit Jahren wachsenden Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus gibt, muss immer Teil der Erwägungen der LINKEN sein.
  • Das Kölner Landgericht führt das Recht auf religiöse Selbstbestimmung als ein Grund für die Forderung nach einem Verbot der Beschneidung von Jungen an. Das Landgericht stellt in seinem Urteil fest: „Diese Veränderungen [des Körpers des Kindes durch Beschneidung] läuft  dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider.“ Das Argument trifft nicht zu. Uns ist keine Religion oder Weltanschauung bekannt, die Beschnittenen die Aufnahme in ihre Reihen verwehrt. Umgekehrt ist es auch nicht so, dass jeder der beschnitten ist, automatisch Jude oder Muslim ist oder wird.
  • Die Befürworter des Kölner Urteils argumentieren, dass Beschneidung aus religiösen Gründen ein nicht medizinisch notwendiger körperlicher Eingriff ist und deswegen als Körperverletzung zu werten sei. Aber alle medizinischen Eingriffe haben immer eine gesellschaftlich-kulturelle Dimension. Eltern haben einen Ermessensspielraum bei körperbezogenen Entscheidungen für ihre Kinder bei Heileingriffen, Impfungen, Schönheitsoperationen, Geschlechtszuweisungen bei Intersexualität. Von daher müssen sich Linke die Frage stellen, warum es jetzt eine Kampagne für eine Einschränkung der Beschneidung gibt, andere körperliche Eingriffe aber außen vor bleiben.
  • Die Auffassung, die Beschneidung widerspreche dem Kindeswohl, unterstellt der Mehrheit der jüdischen und muslimischen Eltern, unverantwortlich mit ihren Kindern umzugehen.
  • Durch die Drohung mit dem Strafrecht erreicht man nicht weniger Beschneidungen, sondern eine Verunsicherung und Stigmatisierung der Betroffenen. Das kann dazu führen, dass zukünftig mehr Beschneidungen nicht medizinisch sachgerecht durchgeführt werden und Komplikationen verschwiegen werden, aus Angst, ansonsten strafrechtlich belangt zu werden. Komplikationen werden durch eine Kriminalisierung und Tabuisierung eher häufiger auftreten.
  • Wir sehen es nicht als die Aufgabe der LINKEN an, Vorschläge für die Änderung der Religionspraxis von Juden, Jüdinnen, Muslima und Muslimen zu machen. Von daher halten wir den Vorschlag einiger Vertreter der LINKEN, Beschneidung bei unter 14 Jährigen in Deutschland zukünftig nur noch als symbolische Beschneidung durchzuführen, für nicht richtig. Die Mehrheit der muslimischen und jüdischen Gemeinden und Organisationen halten eine „symbolische Beschneidung“ nicht für einen adäquaten Ersatz für die Beschneidung.
  • Wir sind überzeugt: Wenn die Praxis einer Religion verändert werden soll, dann muss der Impuls von innen kommen.
  • Wir wissen, dass die Beschneidung für viele jüdische und muslimische Menschen auch Symbol von Zusammengehörigkeit ist, das in Situationen gesellschaftlicher Diskriminierung und Stigmatisierung eine hohe Bedeutung bekommt. Wir haben nicht das Recht, diese Eigendefinition in Frage zu stellen, schon gar nicht im Land der Schoa.
  • DIE LINKE ist eine nicht-religiöse, aber keine antireligiöse Partei. Linke müssen nicht „für“ Beschneidung sein. Wir plädieren aber dafür, dass sich DIE LINKE gegen jegliche Form der Kriminalisierung von Beschneidung von Jungen einsetzt und damit deutlich macht, dass Jüdinnen, Juden, Muslima und Muslime und ihre religiösen Traditionen Teil dieser Gesellschaft sind.

 

27.9.2012