Hier mein Bericht aus Kairo vom 17. September
Unser erstes Treffen am heutigen Tag führt uns ins El Nadeem Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern. Eine Klinik, die 1993 von mehreren Ärztinnen und Ärzten gegründet wurde. Eine von ihnen ist Aida Seif ad-Dawla, Professorin für Psychiatrie. Wir treffen sie in einem der Räume der Klinik, in der Folteropfer, Flüchtlinge und andere Gewaltopfer behandelt werden. Sie berichtet von ihrer Arbeit und dem System der Folter, dass seit mehr als zwanzig Jahren systematisch praktiziert wurde und zunächst ein Mittel war, um die normale Bevölkerung in Angst zu versetzen. Die ersten Jahre wurden kaum politische Aktivisten, sondern einfache Bürgerinnen und Bürger von der Polizei eingeschüchtert und gefoltert. Dann wurden auch Aktivistinnen und Aktivisten im größeren Umfang Opfer der Polizeigewalt. Während in den 90er Jahren Folter in der öffentlichen Diskussion ein Tabu war, gelang es Menschenrechtsaktivisten wie Aida, das Thema Mitte des letzten Jahrzehnts an die Öffentlichkeit zu bringen. Dann waren es die Bloggerinnen und Blogger, die die Zeugnisse und Bilder von Folteropfern veröffentlichten und das Schweigen brachen.

Aida Seif ad-Dawla


Aida berichtet, wie die Folter auch während und nach der Revolution weiterging. Revolutionäre wurden ermordet, verschleppt und gefoltert. Die Praxis der Polizei, der Sicherheitsdienste, des Militärs und der Militärpolizei hat sich nach dem Sturz Mubaraks nicht geändert.
Die Revolution ist noch lange nicht beendet, schließt Aida. Auch wenn es momentan schwierig sei, so ginge die Bewegung bald wieder bergauf. Die heutigen Streiks in vielen Sektoren machen ihr Mut. Wenn wir es geschafft haben, Mubarak loszuwerden, dann können wir auch alle anderen loswerden, sagt sie.
Wir fahren weiter in die Psychiatrische Klinik Abbasiya, wo wir von vier jungen Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung „Ärzte ohne Rechte“ empfangen werden. Die Situation der Ärzte in Ägypten ist nicht mit der in Deutschland zu vergleichen. Ein Arzt verdient ohne Zulagen gerade mal 50 US$ im Monat. Viele haben Schwierigkeiten ihre Familien durchzubringen.
Inspiriert von der Revolution wollten die „Ärzte ohne Rechte“ eine Gewerkschaft für alle Beschäftigten der Klinik durchsetzen. Damit sind sie leider gescheitert. Momentan konzentrieren sie sich auf konkrete Projekte wie den Aufbau eines Kindergartens und die Renovierung der Küche, die völlig heruntergekommen war. Zudem machen sie Kulturveranstaltungen und Lesungen auf dem Klinikgelände. „Wir müssen die Früchte unseres Erfolges ernten“ meint Shaimaa Mosallam. „Aber es wird ein langer Weg, die Korruption und Vereinzelung zu bekämpfen.“

Zwei Frauen von Ärzte ohne Rechte, Annette Groth und Christine Buchholz

Mitten im Regierungsviertel steht der Prachtbau, in dem die Muslimbrüder ihre neue Parteizentrale haben. Wir sprechen mit zwei Vertretern, einer von ihnen der Verantwortliche der Partei für Außenbeziehungen. Uns fällt auf, wie sehr die Partei, die durch die Hoffnungen der Revolution an die Macht gebracht wurde, unter Druck steht.
Zum einen muss sie ihren Wählerinnen und Wählern gerecht werden, die von ihnen einen Bruch mit dem alten Regime erwarten. Zugleich müssen sie mit dem Druck des Militärs und der USA umgehen, die beide ihren Einfluss wahren wollen. Auf meine Frage, wie sie mit diesen Widersprüchen als Regierungspartei umgehen, lautet die Antwort: „Es gibt den Wunschzettel und es gibt die Realität“ Konkret bedeutet das zum Beispiel: Es gibt das Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft und das Versprechen, den öffentlichen Dienst zu erhalten.
Zwei interessante Dinge erfahren wir bei einer Diskussion mit dem Blogger und revolutionären Sozialisten Hossam El-Hamalawy und anderen. Auch er betont die Widersprüchlichkeit der islamistischen Bewegung. Stärker als bei den Muslimbrüdern tritt sie bei den Anhängern der Salafisten zutage. Viele Arme und Tagelöhner haben sich die Bärte wachsen lassen und nennen sich selbst Salafisten. Auch sie sind Teil der Streikbewegungen, auch wenn die Scheichs sagen, Streiks sind verboten. Er sieht es als seine Aufgabe an, den Hass gegen den Westen, den viele aus dem Gefühl der Ohnmacht in sich tragen, gegen die eigentlichen Problem zu wenden. Das sind die Schulden, Unmengen von Waffen, die ins Land gebracht werden und nicht zuletzt die soziale Situation in Ägypten.
Auch am heutigen Tag sind Streiks in beinahe allen Branchen des Landes weitergegangen. So unverbunden die Streiks sind, so gibt es dennoch zwei Forderungen, die sich überall wiederholen: Die Forderung nach Arbeitsverträgen und die Forderung nach der Säuberung des Managements von den Vertretern des alten Systems.
Kairo, der 17.9.