Hier mein Bericht aus Kairo vom 15. und 16. September
Am Abend des 15. September sind wir in Kairo angekommen. Während die deutschen Medien ausschließlich von den Anti-US-Protesten berichten, sieht die Lage vor Ort ganz anders aus. Aktivistinnen und Aktivisten berichten von einer Vielzahl von Streiks, die am heutigen Sonntag stattfinden. Lehrerinnen und Lehrer nutzen den ersten Schultag nach der Sommerpause, um zu streiken. Insgesamt sind heute 10.000 Lehrkräfte in sieben Provinzen im Ausstand. Wir besuchen einen kleinen Streikposten vor dem Gebäude der Volksversammlung. Als wir dort mit einem Lehrer reden, umringen uns Arbeiter eines metallverarbeitenden Unternehmens, die gerade gefeuert wurden. Sie fordern Arbeitsverträge von der Regierung.
Wir fahren weiter zur Universität von Kairo. Dort streiken, wie in acht weiteren staatlichen Universitäten im Land, die Verwaltungsangestellten. Auch sie fordern Verträge und bessere Bezahlung. In weiteren Branchen streiken die Beschäftigten, zum Beispiel die Busfahrer.
Wir besuchen den Tahrirplatz und die Mohamed-Mahmood-Straße, wo sich das Innenministerium befindet. Hier hat es während des letzten Jahres heftige Kämpfe mit der Polizei gegeben. Graffitis zeigen die Brutalität des Militärs und der Polizei und Bilder der Märtyrer.
Auf diesem Bild sieht man Samira Ibrahim. Sie wurde zu einer Ikone des Protestes. Als sie zusammen mit anderen Frauen am 9. März 2011 verhaftet wurden, wurde sie und mindestens 16 weitere Frauen einem Jungfräulichkeitstest unterzogen. Samira wehrte sich und klagte gegen diese Praxis. Sie bekam Recht und so sind die Jungfräulichkeitstest (zumindest auf dem Papier) verboten. Samira ist eine der Heldinnen der ägyptischen Revolution und ein Beispiel, wie die Menschen die Angst vor dem Repressionsapparat verloren haben.
Eine Idee von dem Repressionsapparat bekommen wir, als wir die Graffitis betrachten. Mehrere Mannschaftswagen der Aufstandsbekämpfungspolizei stehen neben den Wandmalereien. Wir werden angepöbelt, die ägyptische Fotografin, die uns begleitet, wird bedroht. „Heute trauen sie sich nicht, uns anzugreifen“, sagt sie, „das war früher anders…“
Wir treffen den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Hamdeen Sabahi. 20 Prozent der Stimmen bekam er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Er vertritt die Ziele der Revolution: Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. Mit einer neuen politischen Bewegung, die die linken und politischen Strömungen der Revolution vereinigt, will er in die nächsten Wahlen ziehen. Er ist sich sicher, die Mehrheit der Ägypter auf seine Seite zu bekommen. Er konnte mit wenig finanziellen Mitteln und einer vor allem ehrenamtlichen Kampagne in der ersten Runde 5 Million Stimmen mobilisieren. Die Partei der Muslimbrüder mit ihrem Apparat und ihrem Geld gerade mal sechs Millionen. Er sagt: „Es liegt an uns, dem Volk eine Perspektive zu geben, soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und unsere Bewegung von der Basis der Gesellschaft her aufzubauen. Das Potential für eine linke Mehrheit ist da.“
Kairo, der 16.9.