Ich dokumentiere hier meinen Beitrag zur Debatte über Beschneidung im Parteivorstand am 9. September. Er setzt sich mit der Position von Raju Sharma, wie ich Mitglied im Parteivorstand der LINKEN auseinander:
„Darum müssen Minderheiten in dem Augenblick nervös werden, in dem sie vom Recht nicht mehr gegen die Urteile und Vorurteile der Mehrheit geschützt werden. Das ist jetzt Deutschlands Minarettverbot – allerdings mit viel weitreichenderen praktischen und symbolischen Folgen, falls das Urteil Bestand haben sollte.“
Navid Kermani, Schriftsteller
1)    Für 100.000 jüdische und vier Millionen muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger ist die Frage existentiell, ob sie zukünftig in der von ihnen gewählten Art und Weise Beschneidungen von Jungen durchführen können. Hier sind sich konservative und liberale Juden und Muslime einig. Von der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) bis zu liberalen Rabbinerinnen, vom liberalen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, bis zum linken Schriftsteller Feridun Zaimoglu.
Ich zitiere die Orthodoxe Rabbinerkonferenz. Was sie sagen, bestätigen fast alle anderen jüdischen und muslimischen Gemeinden, Vereine und Verbände: „Wenn man uns Juden in solch einem wichtigen und identitätsstiftenden Grundsatz unserer Lehre verbieten würde, unsere Religion frei auszuüben, empfänden wir dies, als seien wir insgesamt hier nicht erwünscht solange wir auf unserer eigenen jüdischen Besonderheit bestehen. Wenn wir uns die immer offener zu Tage tretenden Anfeindungen in der laufenden öffentlichen Diskussion ansehen, scheint dies Bestätigung zu finden und verunsichert bereits jetzt viele unserer Gemeindemitglieder.“ [1]
Die Tatsache, dass es in Deutschland einen seit Jahren wachsenden Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus gibt, muss meiner Ansicht nach immer Teil der Erwägungen der LINKEN sein.
2)    Das Kölner Landgericht und auch der religionspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Raju Sharma führen das Recht auf religiöse Selbstbestimmung als ein Grund für die Forderung nach einem Verbot der Beschneidung von Jungen an.
Das Landgericht stellt in seinem Urteil fest: „Diese Veränderungen [des Körpers des Kindes durch Beschneidung] läuft  dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.“ Das Argument ist selbst bei empirischer Betrachtung unsinnig.  Es ist nicht nur so, dass die christliche Urgemeinde, ganz wesentlich aus beschnittenen Juden bestand. Auch heute gibt es keine Religion oder Weltanschauung, die Beschnittenen die Aufnahme in ihre Reihen verwehrt. Umgekehrt ist es auch nicht so, dass jeder der – aus welchen für Gründen auch immer – beschnitten ist, automatisch Jude oder Muslim ist oder wird.
3)    Raju Sharma argumentiert, dass Beschneidung aus religiösen Gründen ein nicht medizinisch notwendiger körperlicher Eingriff ist und deswegen als Körperverletzung zu werten sei. Aber alle medizinischen Eingriffe haben immer eine gesellschaftlich-kulturelle Dimension.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt die körperliche und seelische Integrität und garantiert ein körperbezogenes Selbstbestimmungsrecht. Eltern haben Ermessensspielraum bei körperbezogenen Entscheidungen für ihre Kinder bei Heileingriffen, Impfungen, Schönheitsoperationen, das Stechen von Ohrlöchern, Geschlechtszuweisungen bei Intersexualität. Von daher müssen sich alle, die jetzt für eine Einschränkung der Beschneidung sind, die Frage gefallen lassen, warum sie nicht mit dem gleichen Engagement gegen das Anlegen von Ohren etc. kämpfen.
Meiner Auffassung nach gehören zum Wohle des Kindes medizinische Gesichtspunkte ebenso wie der subjektiv-kulturelle Kontext. Dazu gehört auch, dass ein Junge aufgrund der Beschneidung und seiner Kultur nicht diskriminiert wird. Die Auffassung, die Beschneidung widerspreche dem Kindeswohl, unterstellt der Mehrheit der jüdischen und muslimischen Eltern, unverantwortlich mit ihren Kindern umzugehen.
 
4)    Mit der strafrechtlichen Herangehensweise erreicht man nicht weniger Beschneidungen, sondern eine Verunsicherung und Stigmatisierung der Betroffenen und eine Verschiebung ins Verborgene. Die Mutter, die ihren vierjährigen Jungen wegen Nachblutungen ins Krankenhaus brachte und Anlass für die Klage war, die dann zum Kölner Urteil führte, hat höchst verantwortungsvoll gehandelt. Werden sich muslimische und jüdische Eltern bei Komplikationen auch zukünftig an einen Arzt wenden oder werden sie es aus Angst vor juristischen Konsequenzen unterlassen?
Komplikationen werden durch eine Kriminalisierung und Tabuisierung eher häufiger auftreten.
 
5)    Raju Sharma schlägt vor, die Beschneidung – wie von einigen wenigen Rabbinern oder Laien in Großbritannien und den USA praktiziert – als symbolische Beschneidung durchzuführen. Die Mehrheit der Juden und jüdischen Gemeinden, auch der progressiven jüdischen Organisationen halten dies aber nicht für einen adäquaten Ersatz für die Beschneidung.
Wenn die Praxis einer Religion verändert werden soll, dann muss der Impuls von innen kommen. Navid Kermani schreibt: „Aber dass Menschen von außen sagen: „So etwas wie die Beschneidung darf es aber nicht geben bei euch!“ und damit Juden wie Muslimen ein Kernritual ihres Glaubens wegnehmen wollen, das kann zumal mit der Blick auf die antisemitische Vorgeschichte dieses Vorbehalts nur Unheil stiften, Abwehr, Angst und Desintegration. …Und ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass keine 70 Jahre nach der Schoah traditionelles jüdisches Leben in Deutschland wieder kriminalisiert und damit letztlich in die Illegalität getrieben wird. Das empört mich als deutscher Staatsbürger beinahe noch mehr, als es mich als Muslim erschreckt….“ [2]
DIE LINKE ist eine nicht-religiöse, aber keine antireligiöse Partei. Wenn Raju Sharma behauptet, er wolle den Dialog mit den Gemeinden, dann verkennt er, dass eine Argumentation, die derart wenig auf die Ängste und Bedürfnisse der religiösen Minderheiten eingeht, die Türen zu einem echten Dialog zuschlägt. Vielmehr befürchte ich, dass – auch wenn es weder von Raju Sharma, noch von anderen Personen in der Partei, die seine Positionen vertretend, beabsichtigt ist, die Klischees von herzlosen Juden und Muslimen bedient werden. Profitieren werden davon nur die Rechten.
 
Deswegen plädiere ich dafür, dass sich DIE LINKE für das umfassende Recht auf Beschneidung und gegen jegliche Form der Kriminalisierung einsetzt und damit ein Signal an Juden und Muslime in Deutschland sendet, dass ihre Religionspraxis Teil dieser Gesellschaft ist.
 
 
 
 



[1] aus Argumentationspapier der ORD vom 31.08.12
[2] http://www.ksta.de/politik/navid-kermani—im-expresszug-ins-19–jahrhundert-,15187246,16546268.html