Erinnerung an die Opfer des Massakers wachhalten
Was mir Karim Popal, der Anwalt der Opfer der Bombardierung von Kundus, erzählt, macht mich sprachlos: Er war in Afghanistan. Die Gräber der Opfer, insbesondere die Sammelgräber, sind kaum noch zu sehen. Wo sich die Gräber und auch ein Checkpoint der Deutschen befinden, hat die afghanische Armee einen Militärposten gegründet. Sie hat die Macht über die Gräber. Wenn sich Familienangehörige um die Gräber kümmern wollen, werden sie von Milizen, Kriegsverbrechern und Drogenbauern weggejagt.
Die Lage vieler Opferfamilien ist katastrophal. Acht Witwen und ihre Kinder, die keine Einnahmen haben, können zur Zeit nur aufgrund privater Spenden überleben. Einige Witwen, so Popal, wurden von ihren Familien an wohlhabende Männer verkauft, da die Familien sie und ihre Kinder nicht ernähren können. Mehrere Kinder wachsen in fremden Familien auf, da sie nicht mit ihren verkauften Müttern in die neuen Familien aufgenommen wurden.
Dieser Bericht offenbart das völlige Versagen der Bundesregierung. Sie ordnet alles dem Ziel unter, die Bundeswehr zu Kriegseinsätzen „ohne Tabus“ überall auf der Welt einsetzen zu können. Die Opfer, deren Schicksal und ihr alltäglicher Überlebenskampf stören da nur. Sie bleiben die kleinen schwarzen Punkte, die man auf den Luftaufnahmen der US-Kampfflugzeuge sieht, die den Angriff von Kundus in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 dokumentieren.
Ehemänner, Söhne, Enkel sterben
Als Jan van Aken und ich Ende Januar 2010 nach Afghanistan reisen, ist es unser Ziel, diesen Opfern ein Gesicht zu geben. Wir treffen mit vielen Männern und Frauen der betroffenen Dörfer zusammen. Sie berichten uns über die Ereignisse der Bombennacht von Kundus. Sie beklagen die toten Kinder, Enkel, Ehemänner und Neffen. Sie berichten vom Schmerz des Verlustes, von der Perspektivlosigkeit. Bis zu 142 Tote zählt selbst der NATO-Untersuchungsbericht. Darunter 26 Kinder und Jugendliche, wie Habibe Erfan, eine engagierte Kommunalpolitikerin und Frauenärztin aus Kundus berichtet.
Ich spreche mit Leila. Sie war bereits seit drei Jahren verwitwet und hatte schon vorher zu kämpfen. Ihre zwei Söhne, 13 und 15 Jahre alt, haben ihr viel Arbeit abgenommen. Der eine hat das Feld bestellt, der andere hat sich um die Kuh gekümmert. Beide Söhne sind jetzt tot. Der eine Sohn wollte Benzin holen, sein Bruder hat ihn begleitet. Leila hat kaum Zeit zu trauern, sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie hat kleine Töchter zu versorgen und ist jetzt auf Leihgaben ihrer Verwandten angewiesen. Sie sagt zu mir: „Wenn es mittags Kartoffeln gibt, gibt es abends nur Brot“.
Erschütternd ist der Bericht von Noor Djan, der sich zum Zeitpunkt der Bombardierung nahe der Tanklaster aufhielt. Sein Arm wurde abgerissen, notdürftig versorgt. Ihn plagten Monate später noch so starke Schmerzen, dass er wünschte, er wäre auch gestorben. Ihm fehlt das Geld für Schmerzmittel. Undenkbar, dass er wieder für den Unterhalt seiner Familie aufkommen kann.
Keine deutsche Entschuldigung
Im Oktober 2010 fragte die Linksfraktion im Bundestag, ob sich die Regierung bei den Opfern entschuldigt hat. „Die Bundesregierung bedauert jedes Opfer und hat dies in geeigneter Weise zum Ausdruck gebracht“, heißt es in einer Antwort der Regierung. Fakt ist: Bis heute hat sich kein Vertreter der Regierung direkt an die Opfer gewandt.
Die Bundeswehr verhält sich ebenso ignorant. Wir treffen im Feldlager der Bundeswehr in Kundus den Nachfolger von Oberst Klein, Oberst Rohrschneider. Wir berichten von Noor Djan und bitten darum, in einem Lazarett der Bundeswehr unbürokratisch zu helfen. Das sei nicht möglich, hieß es. Aber man hätte ja im Rahmen der Winterhilfe 2009/2010 die Familien der Opfer bevorzugt bedacht und ihnen Lebensmittel und Decken gegeben. Abdul Hanan, der seine beiden kleinen Söhne verloren hat, ist fassungslos. Er sagt uns: „Was soll ich mit Decken, ich habe meine Liebsten verloren.“
Im August 2010 bezahlt die Bundeswehr an 90 Familien von Getöteten und Verletzten – unabhängig von der Anzahl der Opfer in der Familien – einen Pauschalbeitrag von 5000 US$ pro Familie, ca. 3800 Euro. Damit ist für sie der Fall Kundus abgehakt. Die scheinbar großzügige Geste ist der Versuch, sich billig aus der Affäre zu ziehen: Bisher hatte die Regierung in Fällen, in denen afghanische Zivilisten von deutschen Soldaten getötet wurden, bis zu 33.000 US$ Entschädigung pro Person gezahlt. Dies war von US-Militärstellen als zu hoch kritisiert worden. Auf Nachfrage der Linksfraktion heißt es, die Höhe von 5000 US$ sei „landestypisch“. Und: Nicht alle Opferfamilien erhalten Hilfen, da die Bundesregierung sich auf die niedrigeren Zahlen der regierungsnahen Afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC beruft.
Haji Abdul Basier berichtet:“ Ich bin 80 Jahre alt und habe drei Kinder verloren. Ich habe drei Enkelkinder verloren und die waren meine Ernährer. Es gibt keine Sozialversicherung. Es gibt keine Rentenversicherung. Ich hab meine Ernährer verloren. Die reiche deutsche Regierung und die Helfer ihrer Marionetten, die korrupte Regierung in Kabul und in Kundus, hat unserer 18-köpfigen Familie – den Hinterbliebenen dieser Toten – 5000 Dollar gegeben. Wenn wir das unter uns verteilen, können wir uns vielleicht ein paar Monate ernähren.“ Für Noor Djan, der seinen Arm verlor, reicht das Geld nicht einmal, um die Schulden zu bezahlen, die er für die Behandlung seiner Verletzung aufnehmen musste.
Untersuchungsausschuss im Eiltempo
Für die Betroffenen ist die Weigerung der Regierung, eine Entschädigung im Rechtssinne zu zahlen, eine Katastrophe und ein weiterer Schlag ins Gesicht. Aus den „freiwilligen“ Zahlungen lässt sich juristisch kein Eingeständnis der Schuld ableiten. Das nützt den Verfechtern des Afghanistaneinsatzes, weil so sichergestellt wird, dass Oberst Klein und die Bundesrepublik vor Schadensersatzansprüchen geschützt werden. Damit sichert sich die Bundesregierung vorsorglich für zukünftige Kriege ab. Dasselbe Ziel verfolgten die Regierungsfraktionen im Kundus-Untersuchungsausschuss. Der Zeitplan und die Modalitäten der Beweisaufnahme wurden von den Regierungsparteien durchgezockt. Sie verhinderten unter anderem, dass vom Ausschuss ermittelte Tatsachen in den Abschlussbericht aufgenommen wurden. Es spricht Bände, dass bis auf die Opferbetreuerin Habibe Erfan, den Lastwagen Fahrer Abdul Malek und einen Übersetzer der Bundeswehr keine Afghanen befragt wurden.
Die Erinnerung an das Massaker von Kundus ist heute so wichtig wie eh und je. Denn Kundus war kein „Betriebsunfall“. Die Bombardierung liegt in der Logik des Krieges, der weitergeht. Karim Popal plant mit einigen Freunden, die Gräber zu befestigen, damit sie nicht so schnell verwittern. Bei den drei Sammelgräbern soll auf Schildern in Deutsch und Paschtu auf die Bombardierung hingewiesen und die Namen der Toten auf einen Stein geschrieben werden.
Dieser Artikel ist im September 2012 in der Zeitung gegen den Krieg erscheinen