Offener Brief
An den Landesvorstand DIE LINKE NRW
An die Linksfraktion im Landtag von NRW
Liebe Genossinnen und Genossen aus NRW,
mit großem Interesse verfolge ich die derzeitige Debatte über den Gesetzesentwurf zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach.
Nordrhein-Westfalen wird aller Voraussicht nach das erste Bundesland sein, in dem neben katholischem, evangelischem und alevitischem Religionsunterricht zukünftig auch für die 320 000 muslimischen SchülerInnen bekenntnisorientierter Religionsunterricht im regulären Schulbetrieb angeboten wird.
Auch wenn ich heute nicht in dieser Funktion schreibe, bin ich als Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstands, das u.a. mit zuständig für das Thema Antirassismus ist, in Zeiten von Sarrazin- und Moscheebaudebatten stark involviert in den Kampf gegen Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus. Daher habe ich auch die Auseinandersetzung im NRW-Landtag um die Einführung von islamischem Religionsunterricht verfolgt, weil für viele praktizierende Muslime die institutionalisierte Gleichberechtigung bei der Religionsausübung in Deutschland ein Thema ist.
Wir sind uns einig: Für DIE LINKE soll weiterhin als langfristiges Ziel eine konsequente Trennung von Staat und Religion auf allen gesellschaftlichen Ebenen gelten. Staatlich finanzierte soziale oder Bildungseinrichtungen in kirchlicher Hand, die arbeitsrechtlich bedenkliche Sonderbestimmungen durchsetzen können, müssen bald der Vergangenheit angehören! Ich stimme auch mit Gunhild Böth überein, dass ein gemeinsamer Unterricht in Religions- und Weltanschauungskunde, in dem SchülerInnen sich miteinander und untereinander austauschen, anstatt getrennt voneinander unterrichtet zu werden, weiterhin unser bevorzugtes Zielmodell darstellt.
Allerdings sehe ich die ablehnende Haltung der Landtagsfraktion gegenüber dem Gesetzentwurf aller anderen Fraktionen, wie sie in der ersten Lesung zum Ausdruck gekommen ist, kritisch. Die derzeitige verfassungsrechtliche Lage sieht bekenntnisgebundenen Unterricht als reguläres Schulfach vor, und es sieht momentan nicht danach aus, als könnte eine Mehrheit für die Änderung der Landesverfassung NRWs bzw. des Grundgesetzes in dieser Frage zustande kommen. Ich finde, solange die Durchsetzung einer vollständigen Trennung von Staat und Religion nicht unmittelbar bevorsteht, können wir MuslimInnen eine Gleichbehandlung nicht verwehren. Zumal sich laut Befragung über 80% der Muslime in NRW einen islamischen Religionsunterricht wünschen (Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW: „Muslimisches Leben in NRW“, S. 90).
Vor diesem Hintergrund möchte ich zu Bedenken geben, welche Signalwirkung von einer Verweigerung der Unterstützung der Einführung von islamischem Religionsunterricht durch die Linksfraktion als einziger Fraktion ausgehen würde: Die Auseinandersetzung über islamischen Religionsunterricht findet ja in einem Kontext von jahrelangen Debatten über Integration und (Leit)Kultur statt, die geprägt sind von Herrschaftsdenken und rassistischen Untertönen. Muslime müssen sich ständig erklären, ihre Demokratiefähigkeit beweisen, von Terrorismus distanzieren usw. usf. – denken wir nur an die Einbürgerungstests, die Äußerungen unseres Innenministers oder das wochenlang auf allen Bestsellerlisten stehende Buch „Deutschland schafft sich ab“. Das Klima für Muslime und Migranten ist nicht das angenehmste, und sogar die Partei, bei der sich viele jahrelang aufgehoben fühlten, ist nicht in der Lage, klar Stellung gegen Rassismus zu beziehen und einem menschenverachtenden Schreibtischtäter das Parteibuch zu entziehen.
DIE LINKE ist gegenwärtig die einzige Partei, die konsequent gegen Rassismus und Diskriminierung auftritt und Militäreinsätzen eine klare Absage erteilt. Als Partnerin für gleiche Rechte gibt es hohe Erwartungen an sie. Ich finde das Signal problematisch, dass wir in dem Bundesland, in dem ein Drittel der muslimischen Migranten Deutschlands leben, an die Muslime senden, wenn wir uns einer Gesetzgebung verweigern, die institutionelle Gleichberechtigung ermöglicht. Natürlich ist die Repräsentanz des Beirats für ‚die’ Muslime in all ihrer Vielfalt schwierig, ebenso wie der Versuch, eine Religionsgemeinschaft zu kreieren, die im Islam so gar nicht vorgesehen ist. Aber es handelt sich um eine gemeinsam mit Muslimen erarbeitete Praxislösung für den Wunsch der Mehrheit der Muslime nach einem dem christlichen Religionsunterricht gleichgestellten islamischen Religionsunterricht. Was wären die Alternativen? Und ist es gerechtfertigt, der Mehrheit dieses Angebot zu verweigern, weil eine Minderheit nicht repräsentiert wird?
Klar ist: Für die vorhandenen Schwachstellen müssen weiterhin Lösungen erstritten werden – die generelle Verweigerung des schulischen Angebots halte ich aber für das falsche Signal. Ich halte es auch für bedenklich, die Ablehnung der Erteilung von islamischem Religionsunterricht mit der Zusammensetzung des Beirates zu begründen, der als quasi- Religionsgemeinschaft dem Land NRW als Ansprechpartner dienen soll.
Der Verweis auf die Auflistung der IGMG (die ja im Übrigen nicht deckungsgleich mit dem Koordinationsrat ist) im Verfassungsschutzbericht ist für Parlamentarier der LINKEN, die selber im Verfassungsschutzbericht gelistet werden, eine denkbar ungünstige Argumentationsgrundlage. Auch unter den christlichen Religionsgemeinschaften gibt es fortschrittlichere und weniger fortschrittliche Kräfte. Hier sei auch kurz auf die erkenntnisreiche qualitative Studie des renommierten Wissenschaftlers Prof. Werner Schiffauer über die Transformation der IGMG in den letzten Jahren verwiesen (Werner Schiffauer: „Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft
Milli Görüs“, Frankfurt: Suhrkamp).
Ohne die Details der Debatte in Eurer Landtagsfraktion und im Landesverband zu kennen, bitte ich Euch, die Bedeutung der Ablehnung von islamischem Religionsunterricht zu bedenken. Es geht mir nicht um die Etablierung des Islam, sondern um die Herstellung von Gleichberechtigung für Muslime. Solange es christlichen Religionsunterricht gibt, können wir Muslimen in Deutschland denselben nicht verwehren.
Ich hoffe, ihr empfindet diesen Brief als einen konstruktiven Beitrag zu einer Diskussion, die für unsere junge Partei ja auch recht neu ist. Ich freue mich über Rückmeldungen; bin jedoch in Kürze im Mutterschutz und kann daher für die nächsten drei Monate nicht versprechen, zeitnah darauf antworten zu können.
Mit solidarischen Grüßen, Christine Buchholz
13.07.2011