Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung befürwortet schon seit Jahren einen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Deshalb hat Außenminister und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf ein „Zehn-Punkte-Papier“ ins Gespräch gebracht, der eine Perspektive für die Afghanistanpolitik der Bundesregierung zeichnen soll. Steinmeiers „Zehn-Punkte-Papier“ ist eine hilflose Reaktion auf die katastrophalen Nachrichten, die uns aus Afghanistan erreichen, und eine Wählertäuschung in der heißen Phase des Wahlkampfes.

Steinmeiers Ziel ist die „schrittweise Übergabe“ der Aufgaben des westlichen Militärs an die afghanische Polizei und das afghanische Militär als Voraussetzung für den Abzug der Bundeswehr. Dieses Ziel ist nicht neu, und auch der Aufbau der afghanischen Polizei durch deutsches Personal wird uns seit Jahren als wichtiger Beitrag zur Befriedung des Landes verkauft. Dieses Ziel wird aber offensichtlich nicht erreicht, und die Besatzungsmächte verstärken ihre Truppenpräsenz immer weiter, statt sie schrittweise abzubauen. Der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Admiral Michael Mullen, forderte Mitte September die US-Regierung auf, „mehr Druck auf unsere NATO-Verbündeten auszuüben“, um die Zahl der Soldaten zu erhöhen. Die ersten Schritte des Abzugs der Bundeswehr werden wir also wohl nicht so bald erleben, im Gegenteil stehen alle Zeichen auf weiteren Ausbau der Truppenpräsenz.
In den Medien wurde Steinmeiers Papier als Abzugsplan lanciert. In diesem Zusammenhang las man sogar in einigen Artikeln, dass bis zum Jahr 2013 die Voraussetzungen für den Abzug geschaffen sein sollen. Ein konkretes Datum für den Beginn des Abzuges? Weit gefehlt. Eine Pressemitteilung der Arbeitsgruppe Afghanistan der SPD-Bundestagsfraktion sagt zu Steinmeiers Papier: „Diese Maßnahmen schaffen die Voraussetzungen, die Bundeswehr in Afghanistan überflüssig zu machen. In dem Zehn-Punkte-Papier ist dezidiert keine Jahreszahl genannt, bis wann der Abzug der Bundeswehr vollzogen sein wird, wie zum Teil in der Presse zu lesen war. Das Ende des Afghanistaneinsatzes ist an Mindestanforderungen geknüpft, die sich im Zehn-Punkte-Papier wiederfinden, nicht an eine abstrakte Jahreszahl.“ Die SPD weiß also offensichtlich nicht genau, was sie will.
Steinmeier fordert, die Verantwortung in Faisabad und der Provinz Badakhstan bis 2011 an afghanische Einrichtungen zu übergeben. Diese Regionen gelten als die sichersten Afghanistans, und Steinmeier bleibt eine Erklärung dafür schuldig, warum die Übergabe der militärischen Hoheit bis heute, nach acht Jahren Besatzung, nicht schon längst vollzogen worden ist.
Auch andere Zieldefinitionen des Papiers, wie die Förderung von Alternativen zum Drogenanbau in der Landwirtschaft oder die Einrichtung einer Verwaltungsakademie in Masar-i-Scharif, gelten seit langem und sind nie umgesetzt worden.
Steinmeier fordert einen „Neuanfang“ mit der neu gewählten afghanischen Führung, insbesondere in der Bekämpfung von Korruption und organisiertem Drogenhandel. Nach acht Jahren Besatzung ist die Forderung nach einem Neuanfang ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Politik. In Afghanistan herrschen in der Tat korrupte Warloards und Drogenbarone, die jedoch von den Besatzungsmächten gestützt werden. Kriegsverbrecher sind die wichtigsten Partner des vom Westen eingesetzten Präsidenten Karsai, der mittlerweile sogar der US-Regierung zu korrupt erscheint, um ihn im Amt zu halten. Die abgehaltenen Präsidentschaftswahlen vom September waren für alle offensichtlich eine Farce.
Steinmeiers Papier enthält nicht einmal im Ansatz eine ernst zu nehmende Strategie für die deutsche Afghanistanpolitik, die sich vom Kurs der NATO absetzen würde, und schon gar keinen Weg für den Abzug der Bundeswehr. Folgt die Bundesregierung diesem Papier, könnten die deutschen Truppen noch auf Jahrzehnte in Afghanistan bleiben, während sich der Krieg weiter verschärfen wird. Auf die Ursachen für das Anwachsen des bewaffneten Widerstandes, der sich auch gegen die Präsenz und das Vorgehen der Bundeswehr richtet, und für die Unzufriedenheit der afghanischen Bevölkerung mit der Politik der Besatzungsmächte und der von ihnen installierten afghanischen Regierung geht das Papier mit keinem Wort ein.
Dabei wäre eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Bundeswehr in diesem Krieg Grundvoraussetzung für dessen Beendigung. Werden Steinmeiers Vorschläge umgesetzt, bleibt es dabei, dass die Bundeswehr in Afghanistan Teil des Problems ist. Militärisch ist der Krieg nicht zu gewinnen, und politisch ist die Bundesregierung in Afghanistan gescheitert. Nur ein Abzug der ausländischen Truppen kann die Voraussetzung für Frieden bringen, doch zum Eingeständnis der Niederlage ist die Bundesregierung nicht bereit.