Heute morgen um 8 treffen wir uns mit dem lokalen Gewerkschaftssekretär der UGTT von Ben Arous, einem Vorort von Tunis. Hier befindet sich ein Werk des deutschen Kabelbaum-Herstellers LEONI, zwei weitere befinden sich in anderen Landesteilen. Das Werk im Stadtteil Ezzahra soll geschlossen werden. Der Hintergrund ist eindeutig: Auch wenn die meisten hier nicht viel mehr als den Mindestlohn erhalten, ist das Lohniveau in dem Werk höher, als in den anderen LEONI-Werken. Zudem gibt es in Ben Arous eine starke Gewerkschaft. Das ist in dem Werk im mitteltunesischen Sousse nicht der Fall. Es geht der Geschäftsführung also auch darum, die Gewerkschaft zu schwächen.
Im Werk selbst wurden wir sehr herzlich von den Arbeiterinnen und Arbeitern in Empfang genommen. Sie besetzen ihre Fabrik seit Juli, um die Verlagerung in das mitteltunesische Sousse zu verhindern.

Arbeiterinnen im besetzten LEONI Werk in Ezzahra


600 Arbeiterinnen und Arbeiter sind von der Verlagerung betroffen. 80 Prozent von ihnen Frauen. Die Verlagerung ist für sie eine Katastrophe. Die meisten haben Familien. Sie werden momentan nicht bezahlt und haben Probleme, ihre Familien zu ernähren. Gerade beginnt das neue Schuljahr und die Familien wissen nicht, wie sie ihre Kinder in die Schule schicken sollen.
Die Geschäftsleitung hat allen Beschäftigten angeboten, nach Sous umzuziehen. Aber die Arbeiterinnen und Arbeiterinnen sind misstrauisch: Eine schwangere Kollegin hatte das Angebot angenommen, war umgezogen, wurde aber in dem anderen Werk abgewiesen. Man habe keine Arbeit für sie.
Der örtliche Gewerkschaftssekretär bedankt sich: „Euer Besuch hat die Kolleginnen und Kollegen sehr motiviert und ihre Kampfkraft gestärkt. Es ist so wichtig, dass die Tunesier sehen, dass es Leute aus Deutschland gibt, die solidarisch mit ihnen sind.“ Die Solidarität wird nötig sein, denn die Geschäftsleitung hat die Gespräche mit der Gewerkschaft unterbrochen. Für nächste Woche haben die Gewerkschaften in der lokalen Metall- und Elektroindustrie in Ben Arous einen Solidaritätssteik angekündigt.
Unser nächstes Treffen führt uns zu dem Vorsitzenden der regierenden Ennahda-Partei, Rachid Ghannouchi. Ghannouchi hat eine bewegte Geschichte, hat mehrere Jahre im Gefängnis und im Exil verbracht. Uns fällt auf, dass er viel offener die Probleme des Landes anspricht als die Vertreter der Muslimbrüder in Kairo. Das betrifft sowohl die bisher enttäuschten Hoffnungen der Revolutionäre, die nicht nur für mehr Freiheit, sondern vor allem für soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen sind. Auch kritisiert er deutlich die Polizei, die immer noch vom alten Regime durchsetzt ist. Die Polizei hatte sich letzten Freitag sehr passiv verhalten, als es zu dem Angriff von Salafisten auf die US-Botschaft gekommen ist.
Tunis, der 20.9.