Gleichgültigkeit (…) ist ein Mühlstein um den Hals derer, die neue Ideen haben, ein Ballast, mit dem die allerschönste Begeisterung ertränkt werden kann. (…) Gleichgültigkeit ist eine mächtige Kraft in der Geschichte. Sie funktioniert passiv, aber sie funktioniert dennoch (…) Ich lebe, deshalb ergreife ich Partei. Deshalb hasse ich die, die nicht Partei ergreifen, die, die gleichgültig sind.
Antonio Gramsci (1917)
Mit dem G8-Gipfel hat die Linke in Deutschland die Chance, einen großen Schritt voran zu machen. „In anderen Ländern protestieren die Leute, aber in Deutschland passiert ja nichts.“ Das höre ich oft. Aber so einfach kann es sich die Linke in Deutschland nicht machen. Die Geschichte der G8-Proteste und der globalisierungskritischen Bewegung ist die Geschichte von Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen politisch Handelnder. Ihre Grundlage ist das Scheitern des Kapitalismus an den erklärten Zielen seiner Fürsprecher, die nach dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Zeit des Wohlstands und des Friedens angebrochen sahen. Ihre Grundlage ist weiterhin die Wandlung der sozialdemokratischen Parteien, die sich vom Anwalt der kleinen Leute zum Angreifer gegen diese entwickelten. Außerdem wird sie beflügelt von den kleinen und großen Erfolgen der Bewegung für eine andere Globalisierung in allen Teilen der Welt.
Die Linke in Deutschland hat mit dem Gipfelprotest ihre Reifeprüfung zu bestehen. An drei Beispielen möchte ich verdeutlichen wie in der Vergangenheit das Verhalten der Linken in „Testsituationen“ entscheidend war und an drei weiteren Beispielen dafür werben, Partei zu ergreifen.
Die globalisierungskritische Bewegung hatte ihren ersten großen Auftritt in Europa im Juli 2001 mit den Protesten gegen den G8 Gipfel in Genua. Und sie hatte dort ihre erste Herausforderung vor sich: Wie sollte sie mit der Repression des Berlusconi-Regimes umgehen, das die Demonstranten einschüchterte, provozierte und kriminalisierte? Ich erinnere mich, wie am zweiten Tag der Proteste die Nachricht vom Mord an Carlo Giuliani die Runde machte, der von einem Polizisten erschossen worden war. Die Demonstranten, die sich aus vielen Ländern in Genua getroffen hatten waren verunsichert und verängstigt. Wäre die geplante Großdemonstration für den nächsten Tag abgesagt worden, hätten viele die Proteste als eine Niederlage empfunden. Es ist dem Vorsitzenden der Rifondazione Communista, Fausto Bertinotti, zu verdanken, dass Genua ein Triumph der Bewegung über die Brutalität der Polizei wurde: Bertinotti rief öffentlich dazu auf, am Folgetag nach Genua zu reisen und sich an der Großdemonstration zu beteiligen. Unter großer Zustimmung der Bevölkerung marschierten 300.000 durch die Stadt.
Den zweiten großen Test bestand die globale Bewegung nach dem 11. September 2001. Nach den schrecklichen Terroranschlägen wurde in den USA die nationale Einheit und international die Solidarität mit den USA gepredigt. Wie sollte die Bewegung reagieren? Die richtige Antwort bestand darin, dem drohenden Gegenschlag der US-Regierung eine weltweite Gegenbewegung entgegenzusetzen. Die Versammlung der sozialen Bewegungen beim Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre nannte die Opposition gegen den „Krieg gegen den Terrorismus“ als „eines der konstitutiven Elemente unserer Bewegungen.“ (Sand im Getriebe 11.2.2003) Das Europäische Sozialforum 2002 und das Weltsozialforum 2003 riefen dazu auf am 15.2.2003 gegen den Krieg zu demonstrieren. 15 Millionen Menschen demonstrierten an diesem Tag. Die New York Times schrieb daraufhin „die riesigen, weltweiten Antikriegsdemonstrationen (…) führen uns vor Augen, dass es am Ende vielleicht doch noch zwei ächte auf der Welt gibt: die Vereinigten Staaten und die Weltöffentlichkeit.“ Aber es war nicht selbstverständlich, die Frage des Krieges in das Zentrum der globalisierungskritischen Bewegung zu rücken. Viele Vertreter von Attac und anderen NGOs sahen die Orientierung auf die Antikriegsmobilisierung zunächst als eine Ablenkung vom Kampf gegen den Neoliberalismus. Im Nachhinein zeigte die Erfahrung in Deutschland, dass diese Einschätzung falsch gewesen war und die Proteste gegen den Sozialabbau von Rot-Grün auch über die Mobilisierung gegen den Irakkrieg gewachsen waren.
Der dritte Test der Bewegung bestand und besteht darin, ein Verhältnis zu politischen Parteien der Linken zu entwickeln. In Frankreich war die erfolgreiche Kampagne gegen die EU-Verfassung nur möglich, weil NGOs und politische Initiativen ihre Skepsis gegenüber Parteien beiseite geschoben haben und gemeinsam mit Kommunisten der trotzkistischen LCR und Teilen der Sozialisten die „Non-Kampagne“ aufgebaut haben. Diese Erfahrung stand im Gegensatz zu der ansonsten etwas paradoxen Situation auf den Sozialforen, bei denen zwar politische Parteien schon immer eine wichtige Rolle spielten, aber ihr politisches Auftreten verboten ist. Das Verbot führt dazu, dass Parteien nicht mit offiziellen Vertretern anwesend sind, sondern durch Vertreter von den parteinahen Stiftungen, Initiativen und Jugendverbänden.
Wie nutzt nun die Bewegung in Deutschland die Mobilisierung zum G8-Gipfel? Welchen Weg schlägt sie ein, um auch über den Juli 2007 die Kräfteverhältnisse in Deutschland zu verändern? Wie stellt sie sicher, dass sie nicht vereinnahmt wird, sondern, dass sie die Menschen bestärkt, sich gegen die bestehenden Verhältnisse aufzulehnen?
1. Masse und Klasse
Die G8-Proteste werden von einer breiten Allianz von Organisationen und Netzwerken unterstützt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches sind in der Mobilisierung der gewerkschaftliche Bereich, religiöse Gruppen (christliche, muslimische u.a.) sowie Migranten-Organisationen unterrepräsentiert. Ersteres ist von besonderer Bedeutung, da die globalisierungskritische Bewegung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie sich in der Arbeiterbewegung verankert und auch die Arbeiterbewegung in Deutschland nur dann erfolgreich gegen Angriffe handeln kann, wenn sie den Blick über den nationalen Tellerrand hinaus richtet. Die Schwierigkeit wird sein, sich selbst in den Forderungen zu beschränken, ohne beliebig zu werden. Das heißt anzuknüpfen an die Grundlagen der globalen Bewegung, die sich gegen Neoliberalismus, Rassismus und Krieg stellt und keine Bedingungen zu stellen, die ein Bündnispartner nicht erfüllen kann. So mag z.B. die Forderung „G8 abschaffen“ abstrakt richtig sein. Sie wird aber viele gemäßigte Kräfte, die die G8 nur reformieren, aber die Bewegung mit aufbauen wollen, ausschließen.
2. Den Krieg angreifen
Es gibt in Deutschland ein deutliches Gefälle zwischen der öffentlichen Meinung über die Kriege der US-Regierung sowie über die Situation im Nahen und Mittleren Osten auf der einen und der Mobilisierungsfähigkeit der Linken auf der anderen Seite. Dieses Gefälle wurde nur im unmittelbaren Vorlauf des Irakkrieges angeglichen, als auch in Deutschland Hunderttausende demonstrierten. Das liegt auch daran, dass die deutsche Regierung uns bislang vorgaukeln konnte, dass sie eine kritische Distanz zu den Plänen der Neokonservativen in den USA wahrt. Je stärker die Regierung sich in die internationale Kriegsführung einbinden lässt, desto brüchiger wird dieses Trugbild werden.
Umso problematischer ist es allerdings, dass die Linke sich weiterhin weigert Position zu beziehen, wenn es um den Widerstand im Nahen und Mittleren Osten, sowie die Rolle und die Politik des Staates Israel geht. Die Linke kann nicht gleichgültig sein. Erstens ist die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens ein Teil des weltweiten neoliberalen Projektes. Ein Sieg der im Irak würde mit großer Wahrscheinlichkeit die Kriegsgefahr im Nahen Osten (Iran, Syrien), aber auch in anderen Teilen der Welt (z.B. Sturz von Chavez durch indirekte Intervention wie in Nicaragua oder El Salvador) vergrößern. Zweitens verpflichtet die Lehre aus dem Holocaust die (deutsche) Linke zum aktiven Kampf gegen Antisemitismus und jede andere Form von Rassismus. Und sie verpflichtet sie ebenso anzuerkennen, dass das Schicksal der Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser durch den 1947 gegründeten Staat Israel auch zu den indirekten Folgen des Holocaust gehört. Die deutsche Linke hat im Kampf gegen die Nazis 1933 und den Jahren davor versagt. Das daraus entstandene Schuldgefühl führt dazu, dass ein Teil der Linken aus der Tradition von SPD und KPD heute glaubt ihre Art von politischer Wiedergutmachung leisten zu müssen, indem sie sich der Kritik an Israel enthält und sich so auf Kosten der Palästinenser ein gutes Gewissen verschafft.
3. Positionsbestimmung Partei und Bewegung
In Deutschland ist aus der Bewegung gegen die Agenda 2010 eine neue politische Kraft – die WASG – entstanden, die im Sommer 2007 eine neue Partei zusammen mit der Linkspartei.PDS gründen wird.
Nun versuchten verschiedene Kräfte bereits im Vorfeld der G8-Proteste, Parteien aus dem Vorbereitungsprozess herauszuhalten bzw. ihnen die Rolle der Zuschauerin oder bestenfalls des Verbindungsgliedes zur Polizei und den Behörden zuzuweisen.
Dahinter steht die Befürchtung, Parteien könnten Bewegung vereinnahmen und in ihrer Vielfalt beschneiden. So berechtigt das ist, besteht anders herum die Gefahr der Entpolitisierung von Bewegungen und der Isolierung von politischen Prozessen.
Die Bewegung in Deutschland muss die neu entstehende Linke als einen Teil von sich akzeptieren. Sie würde sich sonst selbst schwächen, denn letztendlich wird nur eine starke antineoliberale politische Kraft dazu in der Lage sein, den Einfluss der Sozialdemokratie im Lager der Gewerkschaften zu brechen. Dies ist nötig um breitere Kreise in den Widerstand zu integrieren.
Aber auch die neue linke Partei muss lernen, dass sie nicht einfach der „parlamentarische Arm“ der Bewegung ist, die sie dann und wann zu Hilfe ruft, um Druck für ihre parlamentarische Arbeit zu erzeugen. Sie muss sich als ein Bestandteil und treibende Kraft von Bewegungen verstehen. Es ist ihre Aufgabe, jeden Schritt, den sie geht, der Prüfung zu unterziehen, ob dies dem Aufbau von Gegenmacht und dem Widerstand gegen Neoliberalismus dient oder ob ihr Handeln sie in Widerspruch zu den Hoffnungen und Interessen der Bewegung bringt.
Erschienen in: Buchholz/Kipping (Hrsg.): Der Gipfel der Ungerechtigkeit – Wie acht Regierungen über 6.000.000.000 Menschen bestimmen