Der globalisierungskritischen Bewegung gelang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm ein großer Erfolg. Zum ersten Mal konnte sie einen G8-Gipfel massenhaft und gewaltfrei blockieren. Der Alternativgipfel und zahlreiche lokale Veranstaltungen zogen viele Menschen aus dem ganzen Land an. Zum Auftakt der Proteste, am 2. Juni, reisten 80 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Rostock. Eine so große globalisierungskritische Demonstration hatte es in Deutschland noch nicht gegeben.
Grund genug, selbstbewusst die Stimme gegen die Politik der G8 zu erheben. Stattdessen u?berfielen die Bewegung tiefe Selbstzweifel. Anlass: Am Rande der Abschlusskundgebung war es zu einer Straßenschlacht zwischen einigen hundert Autonomen des so genannten „Schwarzen Blocks“ und der Polizei gekommen. Wie bei vielen Gipfelprotesten bisher, dominierten diese Bilder sofort die Medien, u?bertriebene Verletztenzahlen machten die Runde und aufgrund einer falschen Übersetzung wurde verbreitet, Walden Bello, Träger des alternativen Nobelpreises, hätte die Steinewerfer bei der Abschlusskundgebung mit den Worten „Wir mu?ssen den Krieg in diese Demonstration tragen“ angeheizt.
In einer solchen Situation kommt den anerkannten Wortfu?hrerinnen und Wortfu?hrern der Bewegung eine große Verantwortung zu. Die meisten Äußerungen aus dem Demonstrationsbu?ndnis erkannten die Steinwu?rfe als das entscheidende Ereignis und die Demonstration als Misserfolg an. In anderen Äußerungen wurde der Polizei bescheinigt, sie hätte sich an den Kurs der Deeskalation gehalten. Es gab sogar Entschuldigungen an die Adresse der Rostocker im Namen des Demonstrationsbu?ndnisses. Medienöffentlichkeit fu?r diese Selbstkritik war gesichert. Die Kritik an den G8 musste dabei untergehen. „Nie wieder Rostock“ kommentierte die TAZ. Dies war demotivierend fu?r die angereisten Gipfelstu?rmer, hielt andere von der Anreise ab und dämpfte die öffentliche Ausstrahlungskraft der bemerkenswert großen Demonstration.
Die zentrale öffentliche Botschaft war die Distanzierung vom „Schwarzen Block“. Distanzierung ist etwas anderes als berechtigte bewegungsinterne Kritik, Distanzierung heißt Forderung nach Ausschluss anderer aus der Bewegung. In der Konsequenz bedeutet Distanzierung den eigenen Ru?ckzug aus der Bewegung, solange die Teilnahme von autonomen Strömungen nicht ausgeschlossen werden kann.
Ähnlich äußerten sich Michael Brie und Lutz Brangsch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In ihrem Papier „In der Sackgasse – oder: Mittel beherrschen Ziele“1 forderten sie wenige Tage nach der Demonstration, „Grenzen zu ziehen“, und schlussfolgerten: „Eine gemeinsame Demonstration ist nicht mehr möglich.“ Brie und Brangsch fordern nicht nur den „Bruch“ des Aktionsbu?ndnisses mit den Autonomen. Sie gehen soweit, den Ausgang der Demonstration als einen „Sieg der Unvernunft und Inhumanität“ zu bezeichnen, und fragen: „Wo liegt der Unterschied zu dem, wogegen demonstriert wird?“
DIE LINKE, die mit zehntausend Mitgliedern an den Protesten beteiligt war, äußerte sich anders. In einer Erklärung vom 3. Juli heißt es: „G8-Demo großer Erfolg – Die Gewalt geht von den G8 aus.“2 Die Erklärung kritisiert das Vorgehen der Polizei und ruft dazu auf, sich an weiteren Protesten zu beteiligen. Auch wichtige internationale Vertreter wie Walden Bello und Jean Ziegler behielten ein Gespu?r fu?r die Verhältnismäßigkeit, klagten die Brutalität der Armuts- und Kriegspolitik der G8 an und reagierten unaufgeregt auf die Anwesenheit einiger Steine schmeißender Jugendlicher auf der Demonstration.
Inzwischen sind viele Details u?ber das Vorgehen der Staatsorgane ans Tageslicht gekommen. Nach der Auswertung von Videoaufnahmen des Polizeieinsatzes am Rostocker Hafen kam zum Beispiel der Richter Horstmann am Amtsgericht Rostock zu dem Urteil, die Polizei sei „auf einen bis dahin völlig friedlichen Teil – den internationalen Block der Anti-G8- Demonstration in Rostock – losgestu?rmt und hat dabei mit einem massiven Knu?ppeleinsatz wahllos auf Demonstranten eingeschlagen und mehrere von ihnen verletzt. Einen Angriff auf Polizisten hat es in dieser Situation dabei nicht gegeben. Das gab es erst in späterer Folge des Polizeieinsatzes. Und selbst die Rostocker Staatsanwaltschaft, die als Anklägerin gegen beschuldigte Demonstrationsteilnehmer auftrat, musste einräumen, dass die Polizei „eine bis dahin friedliche Menschenmenge“ angegriffen habe.3 Ebenso betonte das Grundrechtekomittee in seinem Resu?mee der G8-Proteste, dass „das polizeiliche Vorgehen auf Eskalation angelegt war und nur aufgrund des deeskalierenden und besonnenen Verhaltens des weitaus größten Teils der Demonstrierenden auf wenig Resonanz stieß.“4
Die Gewaltdebatte begleitet die globalisierungskritische Bewegung, wie die Linke insgesamt, seit ihrem Entstehen.
Schon beim EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001 kam es nach Repressionen der Polizei gegen einen Teil der Protestierer zu Auseinandersetzungen zwischen 200 jugendlichen Demonstranten und der Polizei. Ein Polizist schoss scharf und verletzte einen Demonstranten schwer. Damals distanzierte sich Susan George von attac Frankreich von „diesen tyrannischen Typen“5, die die Bewegung zerstörten, und meinte damit die Randalierer, nicht die Polizei. Auch Gerhard Schröder forderte harte Maßnahmen gegen die „Verbrecher“, die Demonstranten. Unter den prominenten Stimmen schlug damals Christophe Aguiton, der internationale Sekretär von attac Frankreich, eine andere Linie ein: „Nichts rechtfertigt den Einsatz von Schusswaffen, so wie es in Schweden passiert ist. Eine Premiere seit der EU-Gru?ndung, bei einer Demonstration in einem EU-Land“. Aguiton erklärte die Wut eines Teils der zumeinst jungen Demonstranten mit der Ignoranz der Regierungen und internationalen Institutionen: „Man muss daher die Ungeduld und die Frustration von hunderttausenden Menschen begreifen, die immer noch kein Einlenken in der Politik sehen.“6 Einen Monat nach dem Präzedenzfall von Göteborg trieb der italienische Staat die Eskalation der Gewalt mit dem Mord an Carlo Giuliani auf die Spitze. Fausto Bertinotti, Vorsitzender der Rifondazione Comunista, rief in der Situation der Verunsicherung und der Angst nach dem Mord dazu auf, am nächsten Tag erst recht zu demonstrieren. 300 000 kamen und sorgten dafu?r, dass Genua keine Niederlage, sondern trotz allem ein Erfolg fu?r die Bewegung wurde.
Fu?r die globalisierungskritische Bewegung ist die Gewaltfrage Kernanliegen und Herausforderung zugleich. Kernanliegen, weil die Ablehnung von Gewalt fu?r viele den Ausschlag gab, aktiv zu werden. Die „andere Welt“ soll eine friedliche sein. Die weltweiten Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg waren der bisherige Höhepunkt der Protestbewegung. Herausforderung, weil Kriminalisierung und Polizeigewalt die Proteste von Seattle u?ber Genua bis zu den Razzien im Vorfeld von Heiligendamm begleiten. Seit ihrer Geburtsstunde versuchen ihre politischen Gegner, die globalisierungskritische Bewegung mit dem Vorwurf der Gewaltbereitschaft zu spalten. Ziel ist dabei nicht die Spaltung in Gewaltlose und Gewalttätige, sondern in jene, die bereit sind, sich auf Abruf von Gewalt in der Bewegung zu distanzieren, und jene, die dies nicht sind. Die Messlatte fu?r eine glaubwu?rdige Distanzierung kann dafu?r beliebig erhöht werden. Wer ist bereit, eine friedliche Massendemonstration zum Misserfolg zu erklären, weil am Rande Steine geflogen sind? Wer ist bereit, seine Unterstu?tzung Protesten zu versagen, wenn nicht auszuschließen ist, dass Steine geworfen werden könnten? Sind friedliche Blockaden bereits Gewalt?
Die Gewaltfrage ist immer auch eine Frage der politischen Strategie und damit eine nach dem Ziel der globalisierungskritischen Bewegung. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Frage, wie der Kapitalismus, der uns heute mit seinen zwei Gesichtern als neoliberale Globalisierung und als neuer Imperialismus entgegentritt, u?berwunden werden kann. Dazu einige Thesen:
Die Gewalt geht von den G8 aus.
Die polemische Frage, die Brie und Brangsch aufwerfen, wo denn noch der Unterschied zu unseren Gegnern hinter dem Zaun liege, wenn aus unseren Reihen Polizisten mit Steinen beworfen wu?rden, ist schnell beantwortet. Die G8, allen voran die USA, aber in wachsendem Maße auch die EU-Staaten, sind zu einem „Sicherheitsproblem“ fu?r die Menschheit geworden. Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter fu?r das Recht auf Nahrung, hat Recht, wenn er die Steine von Rostock ins Verhältnis zu dem täglichen Massaker des Hungers setzt. Die G8 stu?tzen den Erhalt und die Verschärfung einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Weltordnung, der täglich Zehntausende zum Opfer fallen, denen medizinische Versorgung, Nahrung, soziale und politische Sicherheit versagt werden.
Jean Jaures hat gesagt, der Kapitalismus trage den Krieg in sich wie die Wolken den Regen. Der permanente „Krieg gegen den Terror“ macht dies deutlich. Allein im Zuge der US-Invasion des Irak sind bislang 700 000 Menschen umgebracht und 1,5 Millionen zur Flucht gezwungen worden. Die G8 stu?tzen Diktaturen und notfalls Staatsstreiche, um den Weltmarkt fu?r ihre Konzerne zu öffnen. Innenpolitisch beschneiden sie demokratische Rechte, weil sie ihre Politik gegen das Interesse der Mehrheit durchsetzen mu?ssen. Dies zeigen weiträumige Demonstrationsverbote, Razzien und die fortschreitende Überwachung der Bevölkerung. Die wirklichen Terroristen, die Gewalt in großem Stile zur Durchsetzung politischer Ziele anwenden, saßen hinter dem Zaun von Heiligendamm. Die Krieg fu?hrenden Staatschefs haben kein Recht, mit dem moralischen Zeigefinger auf die Rostocker Demonstranten zu zeigen.
Steinwu?rfe dru?cken Ohnmacht aus.
Viele der Steinewerfer glauben, sie wu?rden durch Randale unmittelbare Siege gegen die Hauptverantwortlichen der Gewaltverhältnisse in der Welt erringen. Der so genannte Schwarze Block ist eine Spielart einer wichtigen Strömung in der globalisierungskritischen Bewegung, des Autonomismus. Diese Strömung erstarkte in einer Zeit, als die reformistische Linke durch die neoliberale Wende der Sozialdemokratie diskreditiert war, die Gewerkschaften in der Defensive und der marxistische Teil der radikalen Linken in einem Zustand theoretischer Verunsicherung war, ausgelöst durch den Niedergang der stalinistischen Regimes. Autonome Politik zeichnet sich durch besondere Skepsis gegenu?ber Parteien und Gewerkschaften aus und bezweifelt die Möglichkeit, die Mehrheit der Menschen in Industriestaaten, speziell unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, fu?r eine antikapitalistische Perspektive zu gewinnen.
An die Stelle der Perspektive einer antikapitalistischen Massenbewegung unter Einschluss der Gewerkschaften und linker Parteien treten in der autonomen Theorie Vorstellungen von lokaler Befreiung im Hier und Jetzt. Diese Inseln im Kapitalismus sollen spontan zu einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung zusammenfinden, ohne Vermittlung u?ber politische Organisationen, da diese zwangsläufig zur Herausbildung neuer Machtverhältnisse fu?hrten und ohne den Anspruch zu erheben, eine Gegenmacht zum Kapital und seinem Staat aufzubauen.7 Protestformen werden in dieser Vorstellung zum Selbstzweck und nicht mehr als Mittel verstanden, um eine möglichst breite gesellschaftliche Bewegung auszulösen. Diese Haltung erklärt das Verhalten autonomer Jugendlicher, das von der Staatsmacht auch gerne provoziert wird.
Auch wenn die organisierte autonome Linke in Deutschland nicht stark ist und autonom beeinflusste Teile der Linken, zum Beispiel in der Interventionistischen Linken, bereits Schlu?sse aus vergangenen Fehlern gezogen haben und mit linken Organisationen konstruktiv zusammenarbeiten, entspricht diese Tendenz dem Lebensgefu?hl vieler Jugendlicher, die individuell zu den Rostocker Protesten gereist sind und in den Camps eine andere Kultur gelebt haben.
Wer sich von Steinewerfern distanziert, gefährdet die Bewegung.
Die Leute, die Steine geworfen haben, waren nie offizieller Teil des Bu?ndnisses. Sie haben keine Vorsitzenden und keine Geschäftsstelle, wo Beschwerden vorgetragen werden könnten. Wenn sich die globalisierungskritische Bewegung erst fu?r Steinwu?rfe verantwortlich machen lässt und dann beansprucht, sie in Zukunft zu verhindern, besteht der einzig sichere Ausweg darin, gar nicht mehr zu demonstrieren. Und genau das ist das Ziel der eifernden Ordnungspolitiker und vieler Kommentatoren in den Massenmedien: diese Bewegung zu zerstören. Über die Stöckchen, die sie ihr hinhalten, darf die Protestbewegung nicht springen. Sie sollte die Steinewerfer kritisieren, aber sich nicht von ihnen distanzieren. Solang sie ihnen keinen Ausweg zeigen kann, ist deren Ohnmacht auch ihre eigene Ohnmacht.
Die Distanzierung von den Steinewerfern ist Ausdruck einer falschen Strategie im Kampf gegen die Konzernherrschaft.
Ein großer Teil der Nichtregierungsorganisationen (NGO) und andere politische Organisationen beabsichtigen, durch bessere Argumente die Politik der G8 und der internationalen Organisationen zu verändern. Angesichts des Drucks der internationalen Konkurrenz und der globalen Kräfteverhältnisse entpuppt sich diese Hoffnung zumeist als Illusion. Aber nicht nur, dass die Einbindung in die Politik der G8 wenig Erfolgschancen hat. Sie birgt auch die Gefahr der Demoralisierung in sich. Ein Beispiel der Vereinnahmung durch Dialog war der G8-Gipfel in Gleneagles 2005. Tony Blair stellte sich Arm in Arm mit Bob Geldof und Vertretern von NGO an die Spitze der Bewegung. Die G8 konnten sich unberechtigterweise als Teil der Lösung der Probleme der Welt aufspielen und damit eines ihrer größten Verbrechen, den Krieg gegen den Terror, völlig ausblenden. Das frustrierte viele der Aktivisten der Anti-G8-Bewegung. Der Druck zur Distanzierung trifft dabei jene NGO besonders stark, die auf öffentliche Gelder angewiesen sind oder deren Strategie auf Lobbyarbeit und ein enges Verhältnis zu staatlichen Institutionen ausgerichtet ist.
Nur eine Strategie, die auf die Aktivität der breiten Bevölkerung setzt, kann einen Ausweg aus der Unmenschlichkeit der herrschenden Verhältnisse eröffnen.
Viele gesellschaftliche Gruppen, deren Zukunft genauso vom globalen Kapitalismus bedroht wird wie die autonomer Jugendlicher, fehlten. Die Gewerkschaften sind nicht in ausreichendem Maße fu?r die Proteste gewonnen und mobilisiert worden. Die Ungeduld der Autonomen, ihr losgelöstes und perspektivloses Lospreschen dru?ckt daher nicht nur eine falsche politische Strategie aus, sondern auch das Unvermšgen der Bewegung praktisch zu beweisen, dass die breiten Massen bereit sind, gegen die Auswu?chse des globalen Kapitalismus zu protestieren. Noch ist das Bu?ndnis zwischen globalisierungskritischer Bewegung und Gewerkschaften schwach. Dabei brauchen die Gewerkschaften die globalisierungskritische Bewegung, um der Logik der Standortkonkurrenz einen neuen Internationalismus und eine alternative Strategie fu?r die gewerkschaftliche Gegenwehr entgegenzusetzen und den Kampf gegen die Profitmaximierung zu einer Frage des Allgemeinwohls zu machen, das u?ber Einzelinteressen hinausgeht. Die globalisierungskritische Bewegung braucht die organisierte Arbeiterklasse, weil sie sonst – trotz erfolgreicher Blockaden, phantasievoller Proteste und kluger Köpfe – kein Potential hat, Gegenmacht zu entwickeln.
Als die Hafenarbeiter in Strassburg gegen das Port Package II demonstrierten und dabei auch Steine warfen, kam es niemandem ernsthaft in den Sinn, diese Gewalt auf eine Stufe zu stellen mit der strukturellen, stummen Gewalt der Europäischen Kommission und der Konzerne, die mit ihrem neoliberalen Feldzug Löhne und Arbeitsbedingungen in den europäischen Häfen ruinieren wollten. Der Straßenkampf in Strassburg stellte den Endpunkt eines erfolgreichen europaweiten Streiks in den Wochen zuvor dar. Der entscheidende Unterschied zwischen den Hafenarbeitern und den Rostocker Steinewerfern bestand darin, dass die Hafenarbeiter in der Lage waren, mit ihrem Streik realen Druck zu erzeugen.
Fazit
So falsch es wäre, die Ausschreitungen vom 2. Juni 2007 zu verherrlichen, so falsch ist es, die Steineschmeisser in den eigenen Reihen aus dem Kalku?l heraus zu verdammen, man könne so die eigenen Forderungen besser mit den Interessen des Staates versöhnen. Angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen randalierenden Demonstranten und der „martialisch bewaffneten“ und notwendigerweise u?berwältigenden Macht des bu?rgerlichen Staates und des Kapitals, dessen Interessen er vertritt, ist die Frage nach dem Unterschied zwischen den beiden rasch beantwortet.
Dabei muss sich der eher staatstragende Teil der Bewegung mit der Frage auseinandersetzen, wie – wenn nicht durch Militanz – der Kapitalismus u?berwunden werden kann. Die Einbindung von NGO durch den Dialog mit internationalen Institutionen und den G8 ist eine falsche Strategie. Eine zweite falsche Strategie ist die Übernahme von Regierungsverantwortung ohne eine Massenbewegung im Ru?cken. Je mehr ein Teil der Bewegung ins System integriert und nach rechts gedru?ckt wird, desto stärker wird die Ungeduld des autonomen Flu?gels. So bedingen sich diese beiden Formen der Stellvertreterpolitik einander stärker als es zunächst erscheint.
Zum Glu?ck ging die Strategie der Regierung und der Medien nicht auf, die Proteste durch die unverhältnismäßige Betonung der Gewaltbilder zu diskreditieren, weil die Mehrheit der Protestbewegung besonnen und gewaltlos ihren Protest fortsetzte. Anders als nach Göteborg dru?ckte Susan George auf dem Alternativkongress in Rostock ihre Hochachtung vor den Protesten und Blockaden aus. Sie kritisierte, dass die Regierung die Steinwu?rfe nutze, um die Proteste zu diskreditieren, und sagte: „Ich werde nicht die Kids verurteilen, die die Steine geworfen haben.“8 Das war die Quelle des Erfolges von Rostock. Nicht ein „anderer Protest“ (Brie/Brangsch) ist nštig, sondern eine Ausweitung der Bu?ndnisse, des Protestes und eine bessere Verzahnung mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, sowie eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit der Unzulänglichkeit sowohl autonomer als auch allein parlamentarischer Strategie und Taktik.
Nachbetrachtung: 40 Jahre nach dem 2. Juni 1967
Wie es der Zufall wollte, fand die große Demonstration in Rostock am 40. Jahrestages der großen Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin und die Ermordung Benno Ohnesorgs statt. Ein Blick auf die Gewaltdebatte in der 68er-Bewegung hilft den Blick fu?r die heutigen Debatten zu klären. Drei Autoren wurden in der Studentenbewegung intensiv gelesen: Franz Fanon, Che Guevara und Herbert Marcuse. Alle drei beschäftigten sich mit dem Thema „Gewalt“ und Politik. Franz Fanons gro§es Thema war die befreiende Wirkung des gewaltsamen oder bewaffneten Widerstands der antikolonialen Befreiungsbewegungen fu?r das „Kolonialbewusstsein“ der Algerier, Vietnamesen, Angolaner und anderer. Che Guevara wurde schon damals eher gefeiert als gelesen. Ches theoretischer Beitrag stand in keinem Verhältnis zu seinem „praktischen“ als fu?hrender und siegreicher Partisan der kubanischen Guerilla. Herbert Marcuse wiederum lieferte 1966 ein wichtiges Stichwort zur Reflexion u?ber die Formen des Widerstandes der Studentenbewegung. In seinem Aufsatz „Repressive Toleranz“ argumentiert er, dass es ein einklagbares Recht der Unterdru?ckten auf „Widerstand“ oder gar des Umsturzes des Kapitalismus nicht gebe, dafu?r aber eine Art „Naturrecht“ auf Widerstand und auf die Anwendung „außergesetzlicher Mittel, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.“ Das sei aber fru?her oder später fu?r jede ernsthafte Emanzipationsbewegung der Fall, denn „Gesetz und Ordnung sind u?berall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schu?tzen“, und es sei „unsinnig“, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenu?ber zu appellieren, die unter ihr leiden und kämpfen, weil sie Menschen sein wollen.“ Marcuse kommt zu dem Ergebnis: „Wenn sie (die Unterdru?ckten) Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierten.“ Marcuses Botschaft an die Studentenbewegung war: Gegengewalt ist gerechtfertigt, wer diese prinzipiell ablehnt, hat sich schon unterworfen.
Das Problem dieser Botschaft war, dass sie in ihrer Abstraktion sehr unterschiedlich gedeutet werden konnte und wurde. Rudi Dutschke leitete daraus das Recht auf kalkulierte Regelverletzungen und Gesetzesu?bertretungen auf Demonstrationen und Aktionen ab. Dabei verlor er nie die Perspektive einer Massenbewegung als Voraussetzung einer erfolgreichen Revolte aus dem Auge. Gewalt als Ersatz fu?r die Macht der großen Massen hat er nie verfochten. Deshalb hat er sich – auch wenn Stefan Aust und andere ihm heute vorwerfen, geistiger Begru?nder der RAF gewesen zu sein – nie hinter Aktionen wie die der Kaufhausbrandstifter Baader und Ensslin und der späteren RAF gestellt.
An einem anderen Punkt täuschten sich viele 68er. 1968 war keine vorrevolutionäre Situation oder gar eine verpasste Revolution wie die von 1918. Geblendet von der unglaublichen Geschwindigkeit der Studentenrevolte waren die Fu?hrer der Stundentenbewegung von damals der Überzeugung, der Weg zur revolutionären Überwindung durch eine breite Volkserhebung sei eine Sache von zwei bis drei Jahren. Die Enttäuschung, dass die Revolution nicht kam, hat dann eine Minderheit von ihnen in die RAF, die meisten von ihnen leider nach rechts in die Reihen der Gru?nen und damit zuru?ck in die ruhigen Bahnen bu?rgerlicher Politik getrieben.
Fußnoten
1 rls-Standpunkte 9/2007
2 Pressemitteilung von Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke und Katja Kipping vom 3. Juli 2007
http://gipfelproteste-dielinke.de/gipfelproteste/informationen/view_html?zid=35850&bs=1&n=11
3 http://www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/2007/3/
prozess_gegen_g8_gegner_endet_mit_freilassung

4 http://www.grundrechtekomitee.de/ub_showarticle.php?articleID=243
5 Susan George: Ich war in Göteborg, 2000; http://www.attac.de/themen/debatten/sgeorge_goeteborg.pdf
6 http://www.attac.de/themen/debatten/aguiton_goeteborg.html
7 Vertreter dieser Theorie sind Toni Negri und Michael Hardt (u. a. „Empire“) oder John Holloway. Holloway hat seine zentralen diesbezu?glichen Aussagen 2002 auch unter „Twelve Theses on Changing the World without taking Power“ zusammengefasst.
8 http://marx21.de/images/mp3/070606_George_Schluss.mp3
Aus:
Rainer Rilling (Hrsg.):
Eine Frage der Gewalt. Antworten von links
(Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 49)
Berlin: Karl Dietz Verlag 2008