Ein Anschlag auf eine von Präsident Hamid Karsai angeordnete Militärparade in Kabul am 27. April d.J. illustriert auf besonders drastische Weise die prekäre Lage seiner Regierung, seiner Armee und der zu seiner Unterstützung im Land stationierten Besatzungstruppen. Der Staatsakt fand am 8. Saur, dem Jahrestag des Siegs der Mudschaheddin 1992 statt. Dieser Jahrestag des siegreichen Dschihad und des Falls der Regierung Nadschibullah fiel zeitlich mit dem 30. Jahrestag eines anderen Ereignisses von Bedeutung für ganz Afghanistan zusammen, der Saur-Revolution von 1978. Sie brachte die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) an die Macht, deren Versuch, das Land zu modernisieren und zu säkularisieren, letztlich am Widerstand eines Bündnisses aus CIA und Mudschaheddin sowie an der fehlenden Unterstützung unter der Landbevölkerung scheiterte. Auch die zur Hilfe gerufene sowjetische Intervention konnte die Islamisierung und Kolonialisierung des Landes, zunächst durch die Mudschaheddin, später, als die Sowjets Afghanistan schon längst verlassen hatten, durch die Taliban nicht verhindern.
Nach sechseinhalb Jahren Krieg: Die militärische Lage ist völlig offen
Mag der Anschlag vom 27. April auch sein unmittelbares Ziele, die Person Karsai, verfehlt haben; allein die Tatsache, dass feindliche Attentäter mit ihren Artilleriegeschützen bis in die Sicherheitszone Kabuls eindringen konnten (nach der „grünen Zone“ in Bagdad wohl die am – vermeintlich – besten geschützte Zone der Welt), unterstreicht die völlige Offenheit der militärischen Lage in einem Krieg, der angeblich schon vor sechseinhalb Jahren von den Interventionskräften siegreich beendet worden war. Der Anlass für die Militärparade war so symbolträchtig, dass sich wohl jeder Gegner Karsais den Anschlag auf seine Fahnen heften wollte. Die Verantwortung für den Beschuss der Militärparade in Kabul hat die Islamische Partei Afghanistans IPA von Gulbuddin Hekmatiyar auf sich genommen, nachdem zuerst gemeldet wurde, dass die Taliban dahinter steckten – nach dem üblichen Muster, alles Negative sofort den fundamentalistischen und „blutrünstigen“ Taliban in die Schuhe zu schieben. Andere Gegner Karsais werden geflissentlich verschwiegen, weil sie nicht in das Bild des Schwarz-Weiß-Schemas des Krieges passen: hier die bösen Taliban, die aus religiösem Fanatismus das Land in die Katastrophe führen, dort die gute Regierung, die mit Unterstützung des aufgeklärten Westens dem Land Fortschritt, Demokratie und Wohlstand bringen möchte.
Weder die Friedensbewegung noch die an Zahl zunehmenden selbst ernannten Experten in Sachen Afghanistan können wissen, wie sich das Land am Hindukusch künftig entwickeln wird. Ob es z.B. unter anhaltender Besatzung zu einer „Befriedung“ oder wenigstens zu einer relativen Stabilisierung der Sicherheitslage kommen wird, wobei sich die nicht ganz unwichtige Frage stellt, von wessen Sicherheit hier gesprochen wird: Ist es die Sicherheit der Zivilbevölkerung, der regionalen Warlords und Stammesfürsten, der Statthalterregierung in Kabul oder der internationalen Besatzungs- und Kampftruppen unter Führung der NATO? Oder ob es bei einem erzwungenen oder freiwilligen Abzug der ausländischen Truppen erst recht zur Entfesselung eines blutigen Bürgerkriegs zwischen Taliban, Paschtunen und Nichtpaschtunen, Usbeken und anderen Ethnien, Mudschaheddin und Drogenbaronen, Warlords, Nordallianz und der eingesetzten „Zentral“regierung kommt. Wer glaubt oder vorgibt, ein Rezept für die gedeihliche und weitgehend friedliche zivile Entwicklung Afghanistans in der Tasche zu haben, macht die Rechnung ohne den Wirt (und der Wirte sind viele in und um Afghanistan) bzw. stellt eine Gleichung mit viel zu vielen Unbekannten auf.
Dass Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt wird, darin sind sich in der Friedensbewegung alle einig. Die Kritik an Führung und Ergebnissen des westlichen Einmarsches ist einhellig. Eine offene Frage, die viele beschäftigt, lautet dagegen: Was passiert, falls Bundeswehr und NATO tatsächlich aus Afghanistan abziehen sollten? Wird dann nicht alles noch schlimmer? Gefordert wird daher eine „Exit-Strategie“, die den schrittweisen militärischen Abzug mit Konzepten für den Wiederaufbau verbindet.
Besatzungstruppen als Garanten der Sicherheit …
Es mangelt auch nicht an „konkreten“ Vorschlägen dazu. So hat zum Beispiel ein Bündnis aus Exil-Afghanen zusammen mit dem Autor Christoph Hörstel („Sprengsatz Afghanistan“) einen detaillierten „Friedensplan“ vorgelegt. Auch das in Bonn ansässige „Netzwerk Friedenskooperative“ hat einen „Vorschlag für eine zivile Strategie für Afghanistan“ veröffentlicht, in dem es heißt, die „alleinige Forderung nach Abzug der Bundeswehr“ sei „unzureichend“ und die afghanische Bevölkerung werde sich erst dann für Frieden engagieren, wenn sie eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen könne.
Die Autoren dieser und ähnlicher Papiere haben der Bundesregierung insofern etwas voraus, als diese keinerlei Angaben darüber macht, wann und unter welchen Bedingungen sie die deutschen Soldaten zurückholen will. Überhaupt meidet die Regierung ganz bewusst die Diskussion um den wahren Charakter und die Ziele des Afghanistanfeldzuges. Der Regierung geht es nicht um Freiheit und Demokratie in Afghanistan, sondern um Einfluss in einem strategisch bedeutsamen Teil der Erde. Afghanistan liegt im Herzen Zentralasiens. „Es geht um eine Region mit gewaltigen Energieressourcen“, wie Außenminister Franz-Walter Steinmeier Anfang März vor der Willy Brandt Stiftung darlegte: „Das macht uns zu einem Spieler in einer Region, die nicht nur als Energie- und Transportkorridor heftig umworben wird, sondern die auch eine wichtige Brückenfunktion hat: in den Nahen und Mittleren Osten oder hin zum Kaspischen Meer.“ Die große Koalition hat den deutschen EU-Ratsvorsitz im vergangenen Jahr genutzt, um eine Zentralasienstrategie der EU zu verabschieden. Diese geht ausführlich auf die Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten im Hinblick auf Erdöl und –gas ein, „wobei jeweils die geografische Lage, insbesondere im Verhältnis zu Afghanistan, Pakistan und Iran, berücksichtigt werden muss.“ Wenn Bundeswehrkommandeure mittlerweile von einer möglichen Verweildauer der deutschen Truppen von zehn bis zwanzig Jahren sprechen, wird klar, dass das Hauptinteresse der Besatzer ihre militärische Präsenz ist und nicht etwa der Aufbau des Landes.
Dieser langfristig angelegten Stationierung halten die Exitkonzepte, die in der Friedensbewegung kursieren, die Tür auf, wenn sie den Abzug der Bundeswehr an Bedingungen knüpfen. So argumentiert Hörstel, eine unabdingbare Grundlage seines Friedensplanes seien „keine Aktionen oder Vorbereitungen von Aktionen durch den Widerstand“. Das westliche Militär nehme während der geplanten fünfjährigen Laufzeit seines Friedensplanes „eine Polizeirolle ein“. Das Netzwerk Friedenskooperative hält einen Abzug der westlichen Armeen von vornherein für „völlig unrealistisch“. Die Umsetzung der vorgeschlagenen Projekte, die einer friedlicheren Zukunft den Weg ebnen sollen, dürfe nur mit Zustimmung der Geberländer erfolgen, Korruption sei „nicht hinnehmbar“. Die „zivile Konfliktbearbeitung“ müsse allmählich „zur gängigen Praxis“ werden.
… oder als Ursache für den Widerstand?
Die ausschlaggebende Kraft des zentralen Konfliktes in Afghanistan heute sind aber gerade die Besatzungstruppen. Und so schmerzlich dies sein mag: Alle internationalen Hilfsorganisationen zahlen Schutz- und Schmiergelder, wo dies nötig ist, um Zugang zu Krisengebieten zu bekommen und Hilfe leisten zu können. Wer „gute Regierungsführung“ zu einer Vorbedingung für Entwicklungshilfe macht, verschiebt sie im Zweifelsfall auf den Sankt Nimmerleinstag.
In den meisten Überlegungen zu „Exit-Strategien“ erscheinen Militär und westliche Präsenz ausdrücklich oder implizit als Garanten der Sicherheit, ohne die sich die gut gemeinten Konzepte nicht umsetzen ließen.
Zweifelsohne verdienen die Menschen in Afghanistan jede Hilfe, die sie nach über 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg bekommen können. Für die Zerstörungen durch die Besatzung sind Reparationszahlungen zu leisten. Falsch ist aber die Annahme, dass die NATO-Truppen in Afghanistan für Sicherheit oder Stabilität sorgen würden.
Es sind heute NATO-Bombardements, die täglich afghanische Zivilisten töten und ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen. Das brutale Vorgehen der Besatzer bringt die Bevölkerung gegen sie auf und heizt den bewaffneten Widerstand an. Das kritisieren mittlerweile auch Kommandeure der Besatzungstruppen. An dieser Brutalität hat sich auch nichts geändert, seit die NATO Ende letzten Jahres eine neue Strategie für Afghanistan verabschiedet hat, in der es unter anderem heißt, die Kampftruppen sollten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten.
Deshalb nehmen die Gruppen im Land zu, die das Militär intern als „bewaffneten Widerstand“ bezeichnet, während die westliche Presse sie pauschal als „Taliban“ etikettiert. Dieser bewaffnete Widerstand erhält Zulauf von Männern und Frauen aus den wachsenden Flüchtlingslagern in Afghanistans Nachbarländern und aus den vom Krieg verwüsteten Gebieten des Landes.
Der ideologisch gehärtete Kern des Widerstands, die Taliban, ist heute unter anderem gerade deshalb militärisch stärker und genießt größere Unterstützung als zum Zeitpunkt des westlichen Angriffs, weil er sich als der am besten organisierte und kompromissloseste Widerstand gegen die Besatzung präsentieren kann. Der ehemalige afghanische Innenminister Ali Ahmad Jalali stellte zum Erstarken des Widerstandes fest: „Was die Menschen bewegt ist nicht die Ideologie, sondern eine instabile Umgebung zwischen den bestehenden Netzwerken aus Clans, Stämmen, unzufriedenen Leuten, Drogenhändlern, Opportunisten und arbeitslosen Jugendlichen.“ Invasion und Besatzung haben eine Situation geschaffen, die eine Vielzahl von Menschen als schlimmer empfinden als unter den Taliban, berichtet die afghanische Abgeordnete Malalai Joya, die wegen ihrer engagierten Kritik mit dem Tode bedroht und verfolgt wird.
Dieselben Kriegsherren, die das Land nach dem erzwungenen Rücktritt Nadschibullahs 1992 verwüstet haben (Matin Baraki schreibt dazu: „Nach ihrem Einmarsch waren Horden plündernder Modjahedin wie Heuschreckenschwärme über Kabul hergefallen.“), bauen heute in den afghanischen Provinzen ihre Macht wieder aus und werden dabei vom Westen unterstützt und bewaffnet. Sie waren und sind Verbündete und hohe Würdenträger der auf dem Bonner Petersberg eingesetzten Kabuler Regierung unter Präsident Hamid Karsai. Ihre Einnahmen stammen weiterhin hauptsächlich aus dem Drogengeschäft und der rücksichtslosen Ausbeutung der Landbevölkerung. Aus den Landesteilen, die sie kontrollieren, werden Zwangsheiraten, Menschenhandel und andere schwere Menschenrechtsverletzungen berichtet. Als Unterstützung im Kampf gegen den bewaffneten Widerstand sind sie der NATO aber gut genug.
Neokolonialismus und das Recht auf Widerstand
Das westliche Besatzungsbündnis bedient sich in Afghanistan alter kolonialer Taktiken und lässt einheimische Stellvertreter einen Teil der schmutzigen Arbeit verrichten. Und auch die Rechtfertigungen ähneln denen des klassischen Kolonialismus. Der britische Dichter Rudyard Kipling schrieb 1899 ein viel gelesenes Gedicht über die „Bürde des weißen Mannes“. Diese bestehe darin, verkündete er, „wilde Kriege für den Frieden“ zu entfesseln und den „undankbaren Heiden“ in den Kolonien Fortschritt und Demokratie notfalls mit Gewalt beizubringen. Dass die Einwohner unterworfener Länder selbst in der Lage seien, ihre Gesellschaften zu organisieren, bestritten damals nicht nur Konservative wie Kipling, sondern leider auch der rechte Flügel der sozialdemokratischen Parteien Europas. Jede eigenständige Erhebung der „Eingeborenen“ könne ihre Lage nur verschlechtern, argumentierte 1907 etwa Karl Kautsky in seinem Aufsatz „Sozialismus und Kolonialfrage“. Es dauerte bis zum Ende zweier Weltkriege und dem Sieg der anti-kolonialen Befreiungskämpfe in den 1950er und 60er Jahren, bis nicht nur die – grundsätzlich internationalistisch eingestellte – Linke in den Industriestaaten, sondern auch die Vereinten Nationen – auf Druck der Staaten der Dritten Welt – diese überhebliche Haltung aufgaben. Die Legitimation des antikolonialen Befreiungskampfes beispielsweise erfolgte durch mehrere Resolutionen der UN-Vollversammlung, von denen zwei besondere Bedeutung erlangten: Resolution 2621 (XXV) vom 12. Oktober 1970 erklärte die Fortdauer des „Kolonialismus in all seinen Formen“ zu einem „Verbrechen“ und erhob den Kampf dagegen „mit allen notwendigen Mitteln“ zu einem unveräußerlichen Recht der Kolonialvölker. Drei Jahre später wurde in Resolution 3103 (XXVIII) vom 12. Dezember 1973 festgestellt, dass die Völker unter kolonialer oder fremder Herrschaft sowie unter „rassistischen Regimes“ legitimiert seien, für ihre Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu kämpfen.
Heute wird in Afghanistan wieder eine Art westliches „Protektorat“ errichtet, dessen Handlungsspielraum in westlichen Hauptstädten festgelegt wird. Gegen diese gewaltsame Bevormundung wehren sich Einheimische völlig zu Recht und mit zunehmender Militanz. Andere gehören zu den Nutznießern dieses Protektorats – ob als mit den Besatzern kollaborierende Stammesfürsten und Warlords, ob als Drogenhändler, deren Geschäfte erst mit der Besatzung zu blühen begannen, ob als Bedienstete (vom Fahrer bis zum Dolmetscher) der ausländischen Interventen. In Afghanistan sind viele Menschen, Gruppen und Organisationen aktiv, die ihrem Land einen Weg zu einem selbstbestimmten Wiederaufbau eröffnen wollen, und die nicht mit den ebenfalls vom Krieg hervorgebrachten kriminellen und terroristischen Banden in einen Topf geworfen werden dürfen. Andere wiederum leben im Exil und wagen nicht, in ihr Land zurückzukehren, solange dort Krieg herrscht. Wiederaufbau, sagen sie, lässt sich weder mit noch neben den Besatzern leisten. Bevor dieser Interventionskrieg kein Ende hat, ist an einen Frieden nicht zu denken.
Ziviler Wiederaufbau ohne Militär
Ähnlich argumentieren übrigens auch Vertreter/innen ziviler Hilfsorganisationen. Organisationen wie „Caritas International“, das „Rote Kreuz“, „medico international“, „Welthungerhilfe“ oder die „Kinderhilfe Afghanistan“ fordern für ihre Arbeit strikte Neutralität und Militärferne. Nur dort, wo kein ausländisches Militär sichtbar ist, könne auch zivile Aufbauarbeit gedeihen. Die von der Bundesregierung so hoch gelobte zivil-militärische Kooperation (NATO-Jargon: CIMIC – Civil-Military Cooperation) macht aus den zivilen Helfern in den Augen des afghanischen „Widerstands“ Verbündete der Besatzer und damit Gegner. Immer häufiger geraten sie ins Visier krimineller Banden, terroristischer Gruppierungen oder eines nicht genau zu definierenden „bewaffneten Widerstands“ in Afghanistan. Entführungen und Geiselnahmen sind in einem solchen Umfeld zu einer lukrativen Einnahmequelle für kriminelle Banden geworden. So manche Hilfsorganisation hat bereits das Handtuch geworfen (z.B. schon vor geraumer Zeit „Ärzte ohne Grenzen“), andere Organisationen haben ihren Abzug angekündigt und sitzen auf gepackten Koffern. Damit schwindet ein wesentliches Argument der Befürworter des Militäreinsatzes: Die Hilfe, die es militärisch zu sichern gälte, zieht sich zurück. Das Militär „sichert“ am Ende nur noch sich selbst. Von den deutschen Truppen, die ihr Hauptquartier in Masar-i-Scharif haben, berichtete im August 2007 der Verteidigungsexperte Rainer Arnold (MdB-SPD), dass sie ihre Stellung gar nicht mehr verlassen.
Von 2002 bis 2006 wurden in Afghanistan 85 Mrd. Dollar für Militärmaßnahmen, dagegen nur 7,5 Mrd. Dollar für den zivilen Wiederaufbau eingesetzt. Und auch diese Mittel konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Hauptstadt Kabul und vernachlässigten vor allem die Paschtunengebiete. Der Gesamtbetrag für die militärische „Verteidigung“ Deutschlands am Hindukusch wird bis Ende des Jahres die Drei-Milliarden-Grenze überschreiten. Damit gibt Deutschland für einen zweifelhaften Militäreinsatz ein Vielfaches von dem aus, was in dringend notwendige zivile Hilfsprojekte geflossen ist oder noch fließen wird. Die „Kinderhilfe Afghanistan“ rechnete in einer Presseerklärung vom 8. Februar 2007 vor: „Mit weniger als der Hälfte der derzeitigen jährlichen Kosten für den ISAF-und OEF-Einsatz wäre der Bau ausreichender und qualifizierter regulärer Schulen und deren Unterhalt für 10 Jahre möglich. Allein die Kosten des Tornado-Einsatzes für 2007 würden den Bau von ca. 1000 Schulen ermöglichen.“
Und wie könnte ein positiver Beitrag unsererseits also aussehen? Machen wir folgende einfache Rechnung auf: Der Krieg in Afghanistan hat bislang schätzungsweise 150 Milliarden Dollar gekostet, das sind rund 5.000 Dollar pro Einwohner. Das jährliche Bruttoinlandsprodukt Afghanistans liegt bei 355 Dollar pro Einwohner. Hätte man diese gewaltige Summe zivil ausgegeben, wäre bei den Menschen in Afghanistan ein kleines Vermögen angekommen. Hunger-, Kälte- und Bombentote, wie sie Afghanistan jetzt zu Tausenden zu beklagen hat, ließen sich allein durch Umschichtung der Mittel vom Militär zur zivilen Hilfe vermeiden. Diese Feststellung gilt selbst für den Fall, dass ein Teil der Hilfslieferungen und –gelder nicht bei den Hauptbetroffenen landen, sondern in die Taschen von Kriegsprofiteuren, ausländischen und inländischen NGOs und professionellen Groß- oder Kleinkriminellen fließen – was zur Zeit ja auch schon Gang und Gäbe ist.
Demokratie heißt wörtlich Volksherrschaft. Ohne Selbstbestimmung ist sie keine Demokratie. Es ist nicht Aufgabe noch so Gutmeinender hier, der afghanischen Bevölkerung Blaupausen für ihre Gesellschaftsordnung vorzulegen – und sie militärisch so lange besetzt zu halten, bis sie diese umgesetzt haben. Der erste notwendige Schritt zur Selbstbestimmung heißt stattdessen: Schluss mit Krieg und Besatzung und Abzug der ausländischen Truppen.
Abzug statt „Exit“
Nun behaupten wir nicht, dass sich mit dem Abzug der Besatzer alles zum Guten für die afghanische Bevölkerung wendet. Wir stimmen aber auch nicht in den Chor der Hörstels, der Grünen und der Koalitionäre ein, die für den Fall eines „überstürzten“ Abzugs schreckliche Bürgerkriegs- und Völkermord-Szenarien an die Wand malen. Gestorben wird in Afghanistan heute schon. Und die Militärstrategen des Westens bereiten sich heute auf ein weit ungemütlicheres Sicherheitsumfeld vor – trotz Fortsetzung der militärischen „Stabilisierungs“aktionen. Verteidigungsminister Franz-Josef Jung hat dies auf der Kommandeurtagung im März d.J. auf den Punkt gebracht: „Neben den Schwerpunkten der Stabilisierung und militärischen Absicherung von Wiederaufbaumaßnahmen werden künftig mit der Aufgabe ‚Herstellen von Sicherheit‘ robustere Maßnahmen ins Zentrum rücken. Gerade in Afghanistan müssen wir uns auf ein schwieriges Umfeld einstellen.“ Aus diesem Grund beschloss die Bundesregierung die Entsendung einer zusätzlichen Kampfkomponente, der „Schnellen Eingreiftruppe“, und es pfeifen die Spatzen von den Dächern (assistiert vom Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhahn, und vom Vorsitzenden des Bundeswehrverbands, Oberst Gertz), dass das nächste Mandat des Bundestages im Herbst 2008 eine weitere Aufstockung des Kontingents beinhalten wird.
Sowohl der Anfang Juni 2008 stattfindende Internationale Afghanistan-Kongress als auch die gemeinsame Kampagne der Friedensbewegung, die beide unter dem Motto stehen „Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan“, bilden eine geeignete Plattform für die weitere Diskussion der in diesem Beitrag aufgeworfenen Fragen. Insgesamt sollte sich die Friedensbewegung nicht ins Bockshorn jagen lassen durch Einflüsterungen falscher Experten aus Regierung und kriegsbefürwortender Opposition. Wer sich auf eine Exitstrategie einlässt, akzeptiert – ob er das will oder nicht – im nachhinein den Krieg und die fortwährende illegale Besatzung, so wie das der UN-Sicherheitsrat im Falle des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien 1999, des Afghanistankrieges im Dezember 2001 (Inthronisation von Hamid Karsai als Präsident und ISAF-Mandat) und des völkerrechtswidrigen Irakkrieges 2003 (Resolution 1483 vom 22.Mai 2003 mit der formellen Anerkennung des US-Besatzungsregimes als legitimer „Verwaltung“ des Landes) faktisch getan hat. Zudem überlässt man den Besatzern die Entscheidungsfreiheit über Zeitpunkt und Umfang jeweiliger Exit-Schritte. Dabei ist die Alternative zu Krieg und Besatzung für die Friedensbewegung ebenso klar wie einfach zu bestimmen: Werden die beiden Mandate für den Bundeswehreinsatz (OEF und ISAF) im Herbst nicht verlängert – so unsere Forderung – muss Deutschland seine Truppen abziehen. Dies müsste auch nicht Hals über Kopf geschehen, sondern in einem ähnlichen Zeitraum, in dem die Truppen seiner Zeit nach Afghanistan gebracht wurden, also etwa vier bis fünf Monate.
Zu den Autoren:
Christine Buchholz, Berlin, Mitglied im Geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN; aktiv in der Friedensbewegung;
Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag
Erschienen Mai 2008 Heft 3/2008 der „Marxistischen Blätter“