Christine Buchholz, Annette Groth
Mitglieder des Deutschen Bundestages
Fraktion DIE LINKE

Bericht von unserer Reise nach Ägypten und Tunesien
15. – 22. September 2012
Im Zeitraum vom 15. bis 22. September haben wir die Länder Ägypten und Tunesien besucht, um uns ein Bild von den Veränderungen seit Beginn der revolutionären Umwälzungen zu machen. Unsere Reise wurde überschattet von der Verbreitung eines in den USA produzierten, antimuslimischen Schmähvideos im Internet. Das Erscheinen dieses Filmes rief Proteste salafistischer Kräfte vor westlichen Botschaften in mehreren muslimisch geprägten Ländern und auch in Ägypten hervor. Wenige Tage vor unserer Ankunft in Ägypten war die deutsche Botschaft im benachbarten Sudan gestürmt worden. Vor diesem Hintergrund ordnete das Auswärtige Amt (AA) die Schließung der Botschaft Deutschlands in Kairo an. Uns wurde durch das zuständige Referat im AA am Vorabend unserer geplanten Abfahrt dringend abgeraten, nach Nordafrika zu fahren. Ungeachtet dessen hielten wir an der Durchführung der Reise fest.
Vorliegender Bericht gibt Inhalte der einzelnen Gespräche wieder. Ein Resümee der wichtigsten Ergebnisse haben wir bereits unmittelbar nach unserer Rückkehr vorgelegt.
Wir wurden auf der Reise begleitet von Frank Renken, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Christine Buchholz, Mai Choukri, Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Reiseteil Ägypten), Gigi Ibrahim, Fotografin (Reiseteil Ägypten), Werner Ruf, em. Professor Universität Kassel (Reiseteil Tunesien) und Khaled Chabaane, Hochschullehrer Universität Manouba (Reiseteil Tunesien).
1. Reiseteil: ÄGYPTEN
In den Tagen vor unserer Abreise nach Ägypten konnten die deutschen Nachrichtensendungen beim Fernsehzuschauer durchaus den Eindruck hervorrufen, das Land befinde sich an der Schwelle zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Peter Scholl-Latour erklärte in der „Bild“-Zeitung vom 14. September: „Was als „arabischer Frühling“ im Januar 2011 begann, ist längst zum eisigen – und blutigen – Winter der Islamisten geworden.“
Als wir am folgenden Tag in Kairo ankommen, ist davon nichts zu spüren. Die Stadt ist wie immer. Nur der Verkehr sei noch dichter als sonst, so unser Fahrer, weil sich ein Teil der Busdepots und Minibusse im Streik befände. Es ist Samstagabend, 21 Uhr, und wir quälen uns als Teil einer rußenden Blechlawine Richtung Innenstadt.
Allerdings hat die deutsche Auslandsvertretung aus Angst vor Ausschreitungen geschlossen. Deshalb treffen wir uns am nächsten Morgen mit Peter Senft anstatt in der Botschaft im Hotel.
 
16. September, Peter Senft (Deutsche Botschaft Kairo)
Peter Senft ist seit November 2011 als Sozialreferent an der deutschen Botschaft in Kairo tätig. Der frühere Bezirkssekretär der IG Metall von Berlin-Brandenburg beobachtet heute die industriellen Beziehungen in Ägypten, insbesondere die Konflikte in den dort ansässigen deutschen Unternehmen.
Zu Beginn der Unterhaltung schätzt er die Sicherheitslage im Land weit besser ein als in den deutschen Medien dargestellt. Die Auseinandersetzungen um das antiislamische Internet-Video fänden in einem sehr kleinen Bereich in der Umgebung der US-Botschaft statt.
Auf die die Frage, warum die Nachrichtenlage in ARD und ZDF so verzerrt erscheint, antwortet Senft, die Kürze der Darstellung erlaube nicht viel mehr als die Meldung vereinzelter gewalttätiger Vorkommnisse. Ein ägyptischer Zuschauer könne das vielleicht einordnen, weil er die Gesamtlage kenne. Für einen deutschen Fernsehzuschauer hingegen werde die Wahrnehmung des Landes als solche wesentlich über dieses einzelne Vorkommnis geprägt. Im Übrigen würden die Berichte der Auslandskorrespondenten durch die deutschen Redaktionen bearbeitet, die ihrerseits von einer bereits bestehenden Sichtweise geprägt seien.
Das Gespräch mit Peter Senft dreht sich ansonsten um diejenigen Fragen, die die Gesellschaft täglich prägen. Die soziale Situation sei dramatisch. Senft nennt Eckdaten. In Kairo gebe es 30.000 Kinder, die auf der Straße leben. Es gebe auch geschätzte 10 Millionen Drogenabhängige, darunter vermutete 4 Millionen Alkoholiker. Diese Realität werde aber verborgen.
Nicht zu übersehen ist hingegen die allgemeine Armut, die Mängel in der Infrastruktur, sowie der Verfall der vielstöckigen Mietshäuser, die das Stadtbild prägen. Vor diesem Hintergrund reden wir ausführlich über soziale Kämpfe. Peter Senft berichtet, dass die Revolution nicht zu begreifen sei, wenn man nur auf die politische Kruste blicke. Seit Ende 2006 sei das Land von Arbeiteraktivitäten geprägt.
Dies habe maßgeblich zur Entstehung von Gewerkschaften beigetragen, die nicht mehr vom Staat gelenkt würden. Häufig wurden in den vergangenen Jahren und Monaten solche unabhängigen Gewerkschaften auf Betriebsebene gegründet. Daraus ging ein halbes Jahr nach dem Sturz Mubaraks der Gewerkschaftsdachverband Egyptian Federation of Independent Trade Unions (EFITU) hervor. Er sei aus einem sehr demokratischen Prozess heraus entstanden, so Senft, von unten nach oben.
Die EFITU befinde sich immer noch in der Orientierungsphase, die von Unsicherheiten über die eigene Ausrichtung geprägt sei. So spielten zum Beispiel Rechtsberater eine große Rolle, wenn die Gewerkschaften um ihre offizielle Anerkennung rängen.
Eine dieser Rechtberatungsstellen, das CTUWS (Center for Trade Union and Workers‘ Services), sei 2011, unter Führung von Kamal Abbas, in einen harten Konflikt mit dem Vorstand der EFITU unter Kamal Abu Aita gekommen, da das CTUWS einen Einfluss auf die Leitung der unabhängigen Gewerkschaft beansprucht habe.
Vor dem Hintergrund dieses Streits seien die ehemaligen Weggefährten Abbas und Abu Aita heute zerstritten.
Natürlich hat sich mit der Entstehung der EFITU die alte staatlich-gelenkte Gewerkschaft Egyptian Trade Union Federation (ETUF) nicht automatisch aufgelöst. Unter starkem Druck schloss die Regierung im August 2011 die Zentrale der ETUF, doch die Einzelgewerkschaften blieben bestehen. In Abwesenheit effektiver Arbeitsgesetzgebung hat sich seitdem die ETUF als ein Top-down-Projekt  rekonstituiert. Senft schätzt ein: „Das funktioniert nicht.“ Deshalb nutze der Staatsapparat klassische Methoden, um die unabhängigen Gewerkschaften zu schwächen. Er berichtet davon, dass der Geheimdienst Mitarbeiter der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung unter Druck gesetzt habe, nicht mit der EFITU zusammenzuarbeiten.
Senft thematisiert die Trennung von Politik und Ökonomie. Eben diese werde im revolutionären Prozess in der Praxis immer wieder in Frage gestellt. So berichtet er von einem Konflikt am Cairo International Airport. Dieser Flughafen gehört zu 25 % der deutschen Fraport und beschäftigt 5200 Arbeiter. 2000 von ihnen seien gegen die Kandidatur Ahmed Schafiks bei der Präsidentschaftswahl in einen politischen Streik getreten. Schafik war nicht nur Premierminister unter Mubarak. Er war zuvor Stabschef der Luftwaffe, dann Kommandeur der Luftwaffe und 2002 schließlich Minister für die Zivilluftfahrt. Das heißt, die Beschäftigten haben nicht nur gegen einen Präsidentschaftskandidaten des alten Regimes gestreikt, sondern gegen ihren eigenen ehemaligen Boss. Es zeigt sich, dass das Zusammenwachsen von ökonomischen und politischen Forderungen, das Ineinanderübergehen der verschiedenen Konfliktebenen, im Grunde nichts anderes als eine Reaktion auf das Zusammenwachsen von politischer und ökonomischer Macht im ägyptischen Kapitalismus ist.
Peter Senft bestätigt dies mit Verweis auf die Dominanz des Militärs im alten ägyptischen Staatskapitalismus, wie er sich seit Nasser entwickelt habe. Er weist an dieser Stelle auf einen wichtigen Punkt hin: Das Bewusstsein vom Zusammenhang der vielen Arbeitskämpfe sei nicht automatisch gegeben. So erzählt er von einem Streik der Beschäftigten bei Henkel Anfang September. Henkel-Ägypten stellt Waschpulver für den gesamten arabischen Raum her. Die streikenden Henkel-Arbeiter zogen zwar in der falschen Erwartung, der deutsche Staat könne über Henkel-Deutschland Einfluss auf den Konflikt bei Henkel-Ägypten nehmen, zur deutschen Botschaft. Gleichzeitig hätten die Henkel-Arbeiter aber einen Streik von Pirelli-Arbeitern ignoriert, obgleich dieser nur hundert Meter entfernt stattfand. Es läge auf der Hand, bei den Protestveranstaltungen des jeweils anderen Solidarität zu organisieren und sich so gegenseitig zu stützen.
Der Kampf ermögliche es allerdings zu lernen. Die 400 Henkel-Arbeiter seien auf die Idee gekommen, eine Gewerkschaft zu gründen. Das sei ein großer Schritt nach vorn zur Formulierung kollektiver Forderungen gegenüber einem arroganten Management gewesen,. Den Geschäftsführer von Henkel-Ägypten beschreibt Senft als total abgekoppelt von den Vorgängen im eigenen Betrieb. Er hätte sein Büro noch nicht einmal auf dem Gelände des Werks, sondern weit weg in einem Büro im besseren Stadtteil Heliopolis.
Eine Forderung an den Geschäftsführer von Henkel laute, so Senft: „Leg‘ die Bilanzen offen!“ Das Grundproblem sei, dass sich die Lohnhöhe aus einem sehr geringen Grundgehalt ergibt, auf das eine vom Betriebsergebnis abhängige Zulage hinzukommt. Solange die Arbeiter aber keinen Einblick in die Bücher haben, gingen sie davon aus, dass ihnen nicht die Wahrheit über die Betriebsergebnisse mitgeteilt wird und sie somit um einen Teil des Lohns betrogen werden.
In der Tat sei dieses System extrem korruptionsanfällig. Dies bringe von vornherein eine besondere Schärfe in die Klassenauseinandersetzungen und lege die Forderung nach Entlassung der Korruption verdächtigter Manager nahe. Tat’hir – „Säuberung“ – sei eine gängige Forderung vieler Streikender. Die Welle von Konflikten, in denen die Ersetzung der kleinen Mubaraks in den Managementpositionen einzelner Einrichtungen und Betriebe gefordert werde, spiegele die Vertiefung des revolutionären Prozesses wider – jenseits dessen, was wir in der Medienberichterstattung wahrnehmen können.
Die deutschen Unternehmen seien nach dem Sturz Mubaraks im Land geblieben,  hätten sich jedoch mit Investitionen zurückgehalten. Einer der Gründe dafür sei,
neben der allgemeinen Unsicherheit über die Fortentwicklung der politischen Rahmenbedingungen, ein Gefühl der Lähmung, das auch innerhalb von Joint Ventures‘ zu einem akuten praktischen Problem geworden sei. Auf Ebene der großen Betriebe habe es nach dem Fall Mubaraks meist keinen nennenswerten Personalaustausch auf Leitungsebene gegeben. Vorrangiges Auswahlkriterium für die Besetzung solcher Positionen sei nach wie vor nicht die Frage nach der Kompetenz des Managers, sondern nach dessen Loyalität zur politischen Führung. Da man nicht wisse, wer der nächste Minister sein wird, hielten sich Manager mit Entscheidungen zurück, sofern sie in den vom Staat abhängigen Unternehmen tätig seien. Vor diesem Hintergrund allgemeiner Lähmung überlege sich beispielsweise Fraport, aus dem Kairoer Flughafen auszusteigen.
Peter Senft gibt einen interessanten Überblick über die herrschende Klasse Ägyptens.
Die ägyptische Wirtschaft sei keine freie Marktwirtschaft. Alles werde über Lizenzvergabe durch den Staat gesteuert. Die Armee sei in alle Schlüsselbereiche der Wirtschaft involviert, dies betreffe z.B. Tourismus, Zement-, Nahrungsmittelherstellung, Suez-Kanal-Verwaltung oder die Baubranche. Senft: „Niemand hinterfragt die Rolle der Armee in der Wirtschaft. Präsident Mursi von den Muslimbrüdern hat sich auf einen Deal mit den Generälen eingelassen. Er hat den Vorsitzenden des Militärrates Tantawi und seinen Stabschef Anan abgesetzt. Er kam damit durch, weil er sich nicht in die Geschäfte der Generäle einmischte.“
Neben der Armee gebe es noch eine kleine Oligarchie von Geschäftsleuten, für die Mubaraks Sohn Gamal stünde. Dabei handele es sich um wenige Superreiche, die in Ägypten vor dem Hintergrund von Privatisierungen und anderen neoliberalen „Reformen“ der Mubarak-Ära einen Riesengewinn abgeschöpft hätten, um ihn dann rasch aus dem Land zu bringen.
Ungeachtet dieser vom ausländischen Kapital gelobten Entwicklung eines kleinen, auf scharfer Ausbeutung basierenden privaten Sektors, hemme eine überbordende Staatsbürokratie weiterhin das wirtschaftliche Leben des Landes. Senft nennt folgende Zahlen: 48.000 Angestellte arbeiten im Arbeitsministerium, 65.000 im Gesundheitsministerium, 115.000 im Forstministerium – in einem Land, das zu 95 % aus Wüste besteht!
Abschließend kommen wir auf ein wenig bekanntes Thema – die so genannten Camp David Companies. Camp David ist der Ort in den USA, wo 1978 der ägyptische Präsident Sadat und der israelische Premierminister Begin ein Abkommen unterzeichneten, aus dem der Friedenvertrag zwischen Ägypten und Israel hervorging. Ein Nebenprodukt waren israelisch-ägyptische Joint Ventures, die heute in 15 Sonderwirtschaftszonen in Ägypten angesiedelt sind. Seit 1980 gehen die Produkte dieser Unternehmen direkt und unversteuert in die USA.
 
16. September, Außentermin: Streikende Lehrer, Tahrirplatz
Den Nachmittag des 16. Septembers haben wir uns frei gehalten, um den Tahrirplatz zu besuchen, das Symbol der Januarrevolution von 2011. Doch vorher steigen wir am nahe gelegenen Parlament aus. In dem von der Armee gesicherten Gebiet befinden sich auch Regierungsgebäude. An einem kleinen Streikposten redet ein Lehrer gegen den Straßenlärm an. Er erklärt, die Lehrerinnen und Lehrer nutzten den ersten Schultag nach der Sommerpause, um zu streiken. Insgesamt seien heute 10.000 Lehrkräfte in sieben Provinzen im Ausstand.
Die Lehrer verlangten ein Monatsgehalt von 3000 ägyptischen Pfund, das entspricht 370 Euro. Außerdem forderten sie unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, Verbesserungen bei der Rentenberechnung sowie die Entlassung inkompetenter Ministerialbürokraten, deren Gehalt zwischen 50.000 und bis zu 700.000 ägyptische Pfund betragen würde. Sehr wichtig sei den Lehrern auch die Verbindung mit den Interessen der Schüler. Sie forderten einen Anstieg des Bildungsbudgets um 25 %, damit auch die Infrastruktur verbessert werden könne. Auf einem der zahlreichen Protestschilder steht geschrieben: „Bildung ist ein Recht für alle“.
Nachdem unser Interesse am Streikposten zur Bildung einer kleinen Traube von Passanten führte, umringt uns plötzlich eine Gruppe bärtiger Männer. Sie reden auf uns und die uns begleitende Fotografin Gigi Ibrahim ein. Es sind Arbeiter eines metallverarbeitenden Unternehmens, die gerade gefeuert wurden. Sie fordern Arbeitsverträge von der Regierung und die Wiederverstaatlichung ihres zuvor privatisierten Unternehmens.
Gigi sagt: „Wenn du früher mit einer Kamera durch die Stadt gelaufen bist, sind die Leute vor dir weggelaufen, weil sie dachten, du wärst von der Sicherheit. Heute kommen sie auf dich zu, weil sie dir ihre Geschichte erzählen wollen.“
Endlich besuchen wir den Tahrirplatz und die Mohammed-Mahmud-Straße, wo sich das Innenministerium befindet. Hier hat es während des letzten Jahres heftige Kämpfe mit der Polizei gegeben. Graffitis zeigen die Brutalität des Militärs und der Polizei sowie Bilder der Märtyrer.
Eines der Bilder zeigt Samira Ibrahim. Sie wurde zu einer Ikone des Protestes. Nachdem die Polizei sie zusammen mit anderen Frauen am 9. März 2011 verhaftet hatte, unterzog man sie und mindestens 16 weitere Frauen einem Jungfräulichkeitstest. Samira wehrte sich und klagte gegen diese Praxis. Sie bekam Recht und so sind die Jungfräulichkeitstests, zumindest auf dem Papier, verboten. Samira ist eine der Heldinnen der ägyptischen Revolution. Sie ist ein Beispiel dafür, wie im Zuge der Revolution die Menschen die Angst vor dem Repressionsapparat überwinden konnten.
Eine Idee von diesem Repressionsapparat bekommen wir, als wir die Graffitis betrachten. Mehrere Mannschaftswagen der Aufstandsbekämpfungspolizei stehen neben den Wandmalereien. Wir werden von einem Offizier angepöbelt. Gigi wird bedroht. „Heute trauen sie sich nicht, uns anzugreifen”, sagt sie. „Das war früher anders…”
 
16. September, Gespräch mit Hamdin Sabahi (Präsidentschaftskandidat 2012)
Am Abend treffen wir den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Hamdin Sabahi in dessen Wahlkampfzentrale im Stadtteil Mohandisseen. Mehr als 20 Prozent der Stimmen bekam er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im Sommer 2012. Er vereinte auf sich die Hoffnungen vieler einfacher Leute und galt als der Kandidat der Linken.
Sabahi ist eine populäre Figur in Ägypten. Bereits in den 70er Jahren stand er gegen den von Präsident Sadat vorangetriebenen neoliberalen Umbau der Wirtschaft. Er war Abgeordneter der nasseristischen Partei Karama („Würde“). Insbesondere setzt er sich aktive für die unter israelischer Besatzung lebenden Palästinenser ein.
Als wir in die Zentrale eintreten, bemerken wir eines der Plakate aus dem Wahlkampf. Die Hauptparole lautet: Wahid minna – „Einer von uns“. Sabahi betont stets seine Volksnähe und strahlt auf uns auch auf Anhieb eine sympathische Bodenständigkeit aus.
Sabahi sagt: „Die Ägypter sind sehr stolz auf ihre Revolution, die am 25. Januar 2011 begann. Sie haben ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes aufgeschlagen. Aber die Revolution ist noch nicht beendet. Denn ihre Ziele sind nicht erreicht worden.“
Sabahi umreißt die Ziele der Revolution mit den Worten: Menschliche Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit, Unabhängigkeit des Landes.
Unter der Kontrolle des Supreme Council of Armed Forces (SCAF) habe ein neues Regime das alte Regime abgelöst, aber es arbeite mit denselben Methoden. Die Macht des SCAF wurde durch Mohammed Mursi beschnitten, nachdem dieser die Präsidentschaftswahlen gewonnen habe. Als einer der Muslimbrüder werde er sich aber als unfähig herausstellen, das umzusetzen, was die Menschen sich wünschten. Nach 100 Tagen im Amt werde klar: Mursi könne seine Versprechen nicht halten. Er habe keinen Plan, wie er die sozialen Probleme lösen solle.
Sabahi sieht als Hauptproblem in Ägypten die Armut im Lande. Unter Mubarak habe es eine Marktwirtschaft ohne soziale Verantwortung gegeben. Das Regime habe nur das eigene Klientel bedient. Doch daran habe sich nichts geändert. Den Unterschied zwischen Mubaraks und Mursis Wirtschaftspolitik skizziert er folgendermaßen: „Ein rechter Kapitalist ist an die Stelle eines rechten Kapitalisten getreten.“
Mit einer neuen politischen Bewegung, die die linken und politischen Strömungen der Revolution vereinigt, will er in die nächsten Wahlen ziehen. Er ist sich sicher, die Mehrheit der Ägypter auf seine Seite zu bekommen. Er konnte mit wenigen finanziellen Mitteln und einer vor allem ehrenamtlichen Kampagne in der ersten Runde der letzten Präsidentschaftswahlen 5 Million Stimmen auf sich vereinen – die Partei der Muslimbrüder mit ihrem Apparat und ihrem Geld erhielt gerade einmal sechs Millionen. Er sagt: „Es liegt an uns, dem Volk eine Perspektive zu geben, soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und unsere Bewegung von der Basis der Gesellschaft her aufzubauen. Das Potenzial für eine linke Mehrheit ist da.”
Wir fragen Sabahi, wie sich die Linke in Ägypten organisieren müsse, um diese potenzielle Mehrheit zu gewinnen.
Er antwortet: „Wir müssen die traditionellen Gräben überwinden. Ägypten kennt als Teil der arabischen Welt Liberale, Linke, Nasseristen und Muslimbrüder. Jede Strömung für sich stellt nur eine Minderheit dar, auch die Linke. 90 Prozent der Ägypter zählen sich selbst überhaupt keiner bestimmten Strömung zu. Sie reagieren von Fall zu Fall.
Unsere Forderungen müssen auf das Volk orientiert sein. Die Revolution des 25. Januar hat uns gelehrt: Wir wären nicht erfolgreich gewesen, wenn nur die nasseristische Strömung oder irgendeine andere Strömung auf sich allein gestellt agiert hätte.
Der Streit zwischen den Säkularen und den Gläubigen ist nicht der wirkliche Streitpunkt. Die eigentliche Frage ist – wie kommen wir zu sozialer Gerechtigkeit? Wie kann die Linke einen Beitrag für das Volk leisten? Ich selbst war Mitglied der Karama-Partei. Doch nun geht es um eine Einheitsbewegung. Deshalb haben wir die „Volksströmung“ gegründet – eine neue Bewegung, die in jedem Stadtteil und an jedem Ort vertreten sein soll. Ihre Eckpunkte sind: Kampf für soziale Gerechtigkeit, Unterstützung von Genossenschaften und Kleinunternehmen, demokratische Reformen, Unterstützung von Initiativen an der Basis der Gesellschaft, wie im Bereich des Sports oder der Pfadfinder, und natürlich der Internationalismus.“
Sabahi bezeichnet die neue Strömung als eine „Bewegung der Mitte, eine Bewegung der Linken“. Er betont, dieser Prozess müsse fortgeführt werden. Es gehe um die Gründung einer Bewegung, die „die gesamte ägyptische Nation“ widerspiegele.
Tatsächlich findet am 9. Oktober in Alexandria eine vorbereitende Konferenz zur Gründung einer Wahlallianz unter dem Namen „Zivildemokratische Bewegung“ statt,
in der Sabahis Volksströmung eine Hauptkomponente darstellt. Anwesend in Alexandria waren 1500 Delegierte, die fast 30 Parteien und 12 politische Bewegungen repräsentieren. Im Kern stellt diese Bewegung einen Mitte-Links-Block dar, der Sabahis Strömung mit den bürgerlichen Kräften der „Ägyptischen Nationalallianz“ (Wafd-Partei von Amr Mussa) und der von Mohamed el-Baradei gegründeten Verfassungspartei vereint.
 
17. September: Gespräch mit Aida Seif ad-Dawla (Nadim-Zentrum)
Unser erstes Treffen führt uns ins „El-Nadim-Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern“. Dabei handelt es sich um eine kleine Ambulanz, die 1993 von mehreren Ärztinnen und Ärzten gegründet wurde. Eine von ihnen ist Aida Seif ad-Dawla, Psychiaterin und eine international bekannte Expertin für Folter. Wir treffen sie in einem der Räume des Zentrums, in der Folteropfer und andere Gewaltopfer behandelt werden. Auch viele Flüchtlinge aus Schwarzafrika sind unter den Patienten. Aida Seif ad-Dawla berichtet von ihrer Arbeit und dem System der Folter, die seit mehr als zwanzig Jahren systematisch praktiziert werde und zunächst ein Mittel gewesen sei, um die normale Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.
Das Ausmaß der Willkür, von dem sie berichtet, ist schockierend. Die ersten Jahre seien kaum politische Aktivisten, sondern einfache Bürgerinnen und Bürger von der Polizei eingeschüchtert und gefoltert worden. Dann seien auch Aktivistinnen und Aktivisten im größeren Umfang Opfer der Polizeigewalt geworden.
Während in den 90er Jahren Folter in der öffentlichen Diskussion ein Tabu war, gelang es Menschenrechtsaktivisten wie Aida, das Thema Mitte des letzten Jahrzehnts an die Öffentlichkeit zu bringen. Dann waren es die Bloggerinnen und Blogger, die die Zeugnisse und Bilder von Folteropfern veröffentlichten und das Schweigen brachen.
Aida Seif ad-Dawla: „Seit Beginn der Revolution im Januar 2011 hat sich in Bezug auf Folter nichts verbessert. Am 3. Februar, als um den Tahrir-Platz die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei tobten, wurde ein junger Mann vom Platz ins nahgelegene Ägyptische Museum verschleppt und vor Ort gefoltert, dann ins Militärgefängnis überführt. Er kam am 10. Februar ins Nadim-Zentrum. Das heißt, er wurde sieben Tage gefoltert.“
„Es hat zu keinem Zeitpunkt aufgehört“, so Aida. Nun sei auch noch der militärische Geheimdienst als folternde Institution verstärkt in Erscheinung getreten. Und es bliebe nicht immer bei der Misshandlung: „Es wird viel gemordet.“
Doch Aida beeindruckt uns durch ihren Optimismus. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass die Revolution trotz allem einen wichtigen Fortschritt gebracht habe – was zu einer paradoxen Entwicklung geführt hätte. „Heute wissen die Leute, dass sie sich wehren können,“, so Aida. „ Das führt dazu, dass es mehr Konfrontationen zwischen Individuen und der Polizei gibt. Zum Beispiel gab es den Fall, wo ein Polizist an einem Checkpoint von einem Autofahrer den Führerschein verlangt hat. Der Autofahrer konnte eine Kopie des Führerscheins vorweisen, aber das reichte dem Polizisten nicht. Daraufhin kam es zu einem Austausch von gegenseitigen Beschimpfungen.
Schließlich wurde der Fahrer von den Polizeibeamten verprügelt. Das Ganze kam heraus, weil es sich bei dem Fahrer um einen Journalisten handelte. Die Medien haben weithin von dem Vorfall berichtet.“
Das Grundproblem sei, dass eine Revolution stattfände, die den Präsidenten beseitigt habe und das Selbstbewusstsein der Unterdrückten hob, aber der alte Staatsapparat unverändert bestehen geblieben sei. Dies spitze die Konfrontationen zu. Aida berichtet davon, dass Misshandlungen eine direkte Reaktion auf die Forderungen der Bewegung darstellen würden: „Einer der Slogans vom Tahrir-Platz war Erhebt eure Köpfe!
Als Reaktion darauf begannen Polizisten, sich darüber lustig zu machen und gezielt auf den Kopf zu schlagen.“
Neu sei, so Aida, das Ausmaß an sexueller Gewalt seitens der Staatsorgane.
Auf diesem Gebiet „gibt es grauenhafte Geschichten, die ich früher so nicht gehört habe. Das schlimmste ist das nach wie vor bestehende Klima der Straflosigkeit, in dem die Täter agieren.“
Die Existenz von Folter werde im Übrigen immer nur als das Fehlverhalten Einzelner dargestellt. Tatsächlich handele es sich um eine systematische Politik; dies zeige schon das Vorhandensein professionellen Equipments auf den Revieren und in den Gefängnissen.
Aida antwortet auf die Frage, wie die Gewalterfahrung das Leben der Opfer verändert: „Da gibt es keinen Prototyp. Folter erzeugt aber in allen Fällen ein außerordentliches Trauma. Jeder trägt psychische Narben davon.“
„Jemand wurde gefoltert,“, so Aida, „weil er es wagte, in einer U-Bahnstation nach einer polizeilichen Durchsuchung um die Rückgabe einer Packung Zigaretten zu bitten. Sie haben ihn in einen Raum in der U-Bahnstation eingesperrt und zwei Tage an den Armen aufgehängt. Solche Erfahrungen sind traumatisch. Die langfristige Wirkung von Folter ist ungleich schlimmer, wenn das Opfer nicht weiß, warum es misshandelt wird.“
Die Gründung des Nadim-Zentrums geht auf einen großen Streik im Eisen- und Stahlsektor von 1989 zurück. Hunderte Arbeiter wurden damals verhaftet. Es entstand eine Solidaritätskampagne, die von der Staatspolizei zerschlagen wurde. Kamal Khalil und Hischam Nadim, Namensgeber der Ambulanz, wurden dabei misshandelt. Drei Ärzte, darunter Aida, haben einen Bericht über die Vorgänge erstellt. Er wurde blockiert, obgleich sie sich als Ärzte in einer relativ gehobenen Stellung befunden hätten. Da sei ihr klar geworden, dass sie eine Organisation bräuchten, um überhaupt in der Lage zu sein, Berichte zu produzieren und Vorgänge öffentlich zu machen.
„Dann haben wir erkannt,“ so Aida, „dass entlassene Gefangene stets wie Helden gefeiert werden. Aber dass es keine Stelle gibt, wo sie darüber reden können, wie es sich anfühlt, wenn man mit verbundenen Augen und in Handschellen gefoltert wird.“
Das Nadim-Zentrum habe eine unterstützende Funktion: „Wichtig ist, dass es ein Umfeld gibt, das dich auffängt. Das Gefühl der Isolation muss durchbrochen werden. Es ist für die Opfer von Folter leichter, mit ihren Gefühlen herauszukommen, wenn sie wissen, dass auch andere Folteropfer offen darüber sprechen. Das nimmt das Gefühl von Scham oder gar Schuld, das sich einstellt.“
Das Nadim-Zentrum sei deshalb nicht nur eine medizinische Einrichtung. Es solle helfen, die Opfer von Staatsgewalt wieder aufzurichten, zu zeigen: „Ihr könnt mich nicht brechen.“ Insofern sei die Arbeit Teil des größeren politischen Umwälzungsprozesses im Land.
„Die Revolution verläuft in Wellen. Sie ist noch lange nicht beendet“, schließt Aida. „Auch wenn es momentan schwierig ist, so geht die Bewegung bald wieder bergauf. Die heutigen Kämpfe und Streiks in vielen Sektoren machen mir Mut. Wenn wir es geschafft haben, Mubarak loszuwerden, dann können wir auch alle anderen loswerden“, sagt sie.
 
17. September: Ahmed Salah ed-Din; Michael Elnemais Fawzy; Hend Adel Ali, Shaimaa Mesalam (Netzwerk „Ärzte ohne Rechte“)
Wir fahren weiter in die Psychiatrische Klinik Abbasiya, wo wir von vier jungen Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung „Ärzte ohne Rechte” empfangen werden.
Die Situation der Ärzte in Ägypten ist nicht mit der in Deutschland zu vergleichen.
Ein Arzt verdient ein Grundgehalt von umgerechnet 50 Euro im Monat.
Mit Zulagen kommt er auf 1400 ägyptische Pfund – knapp 200 Euro. Viele haben Schwierigkeiten, ihre Familien durchzubringen.
Shaimaa Mesalam sagt: „Im Januar und Februar 2011 waren wir alle auf den Plätzen und Straßen. Im Krankenhaus gab es eine Vollversammlung. Die Stimmung war – wir wollen die Revolution!“
Und das betraf auch die Selbstorganisation der Ärzte. „Die Ärztegewerkschaft“, so Shaimaa, „kannte 19 Jahre keine Wahlen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft wurde von der [Staatspartei] NDP ernannt. Er war sehr verhasst.“
Doch die NDP (Nationale demokratische Partei) konnte nicht verhindern, dass in den 90er Jahren die Ärztegewerkschaft zunehmend unter den Einfluss der Muslimbruderschaft geriet. Die Muslimbrüder versuchten, aus der Ärztegewerkschaft eine Art Serviceeinrichtung zu machen, die einige jener Funktionen ausfüllte, die der Staat infolge der neoliberalen Reformen seit Sadat nicht mehr wahrnahm.
Auch unterstützten sie Ärzte bei dem Versuch, sich selbständig zu machen und private Ambulanzen einzurichten.
Die Revolution erfasste die Gewerkschaft. Das führte zu politischen Verschiebungen: „Im Mai 2011 haben die meisten Ärzte zweimal gestreikt“, sagt Shaimaa.
„Im September gab es dann Protestaktionen. Bis dahin waren die Muslimbrüder die alles bestimmende Kraft in der Ärztegewerkschaft. Doch als im Oktober [2011] Wahlen stattfanden, hat unser Netzwerk „Ärzte ohne Rechte“ 12 von 14 Sitzen im Kairoer Generalrat der Gewerkschaft gewonnen, in Alexandria 10 von 12.“ Im nationalen Führungsgremium der verfassten Ärzteschaft sind die „Ärzte ohne Rechte“ mit sechs von 24 Sitzen vertreten, die Muslimbrüder mit 12.
Das Netzwerk „Ärzte ohne Rechte“ ist parteipolitisch nicht festgelegt. Bekannte Linke wie die Ärztin Mona Mina sind in ihr vertreten.
Unabhängig von parteilicher Zugehörigkeit tritt das Netzwerk für Selbstaktivität ein. Unsere Gesprächspartner sprechen von sich selbst als „Arbeiterinnen und Arbeiter“.
Ihr Ziel ist es, eine unabhängige Gewerkschaft durchzusetzen, die alle Beschäftigten der Klinik vereint – Ärzte, Pflegekräfte und Handwerker. Bislang haben sie dieses Ziel leider nicht erreicht.
Ihre tägliche Arbeit im Krankenhaus drehe sich um ganz praktische Dinge. In unserem Gespräch berichten sie ausführlich von konkreten Projekten, wie dem Aufbau eines Kindergartens und der Renovierung der Küche, die völlig heruntergekommen gewesen sei. Zudem machten sie Kulturveranstaltungen und Lesungen auf dem Klinikgelände.
Vier Tage nach unserem Gespräch hat eine überfüllte Versammlung der offiziellen Gewerkschaft für den 1. Oktober einen Streik im gesamten Gesundheitswesen mit Ausnahme der Notaufnahmen beschlossen. Die Forderungen sind jene, die uns auch die „Ärzte ohne Rechte“ im Abbasiya -Krankenhaus vortrugen: Erhöhung des Anteils für Gesundheit im Staatshaushalt auf 15 %, Verbesserung der Sicherheit für Angestellte und Patienten, ein Mindestlohn für praktizierende Ärzte von 3000 ägyptischen Pfund monatlich (entspricht ca. 375 Euro).
 
17. September, Treffen im Hauptquartier der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“
Mitten im Regierungsviertel steht die Stadtvilla, in der die Zentrale der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (PFG) untergebracht ist. Der Bau steht mit seinem sanierten und gepflegten Äußeren in einem deutlichen Kontrast zum Verfall der meisten anderen Gebäude, der auch nicht vor dem Stadtzentrum Kairos Halt macht.
Bei der PFG handelt es sich um den politischen Arm der Muslimbruderschaft. Die Partei ist im letzten Jahr im Laufe der Revolution gegründet worden. Sie ist als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen zu Beginn des Jahres 2012 hervorgegangen und verfügt, zusammen mit der ebenfalls neugegründeten salafistischen Hizb an-Nur („Partei des Lichts“), in der Volksversammlung, der ersten Kammer des ägyptischen Parlaments, über mehr als zwei Drittel der Abgeordneten. Allerdings wurde das Parlament im Zuge eines so genannten „weichen Putsches“ durch den obersten Militärrat (SCAF) aufgelöst, so dass der derzeitige Präsident und vormalige Vorsitzende der PFG Mursi ohne legislativen Unterbau regiert. Genau genommen hat er, nachdem er Militärratschef Feldmarschall Tantawi abgesetzt und damit die Macht des SCAF beschnitten hat, die legislativen Vollmachten in eigener Hand konzentriert.
Wir sprechen in der Parteizentrale mit zwei Vertretern der Muslimbruderschaft – mit Walid el-Haddad, Koordinator für auswärtige Beziehungen der PFG, sowie Khaled Ahmed, Anwalt und Abgeordneter der PFG im aufgelösten Parlament. Konfrontiert mit der Frage nach den Menschenrechtsverletzungen, antwortet Khaled Ahmed: „Sie müssen die Zeit vor und nach Mubarak unterscheiden.
Nach der Revolution ging es um die Verteidigung der Rechte. Unsere Partei hat als eines der ersten Ziele die Verteidigung der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben. Heute hat jeder Ägypter volle Demonstrationsfreiheit. Wir sind für die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von Geschlecht und Religion.“ Wir fragen nach: „Wie kämpfen Sie gegen die Fortführung von Folter?“ Antwort Ahmed: „Es gibt keine Folter mehr in den Gefängnissen und auf den Polizeirevieren. Präsident Mursi hat alle politischen Gefangenen entlassen.“ Walid el-Haddad fügt etwas vorsichtiger hinzu: „Wir versuchen derzeit, Untersuchungen auf den Weg zu bringen. Wir haben uns zu diesem Zweck mit einer Menschenrechtsdelegation aus den USA und Europa getroffen.“
Ahmed beschreibt das Verhältnis der Muslimbruderschaft zur Minderheit
der christlichen Kopten: „Das alte System hat die Kopten ständig diskriminiert.
Für uns handelt es sich um unsere Nachbarn. Wir haben nie gefühlt, dass es einen Unterschied zwischen uns gibt.“
Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Muslimbrüder gegenüber Gesprächspartnern aus dem Westen routinemäßig immer wieder bestimmte Bekenntnisse abgeben. Dazu gehört auch das Bekenntnis zum Kampf gegen den Terror. Vor unserer Reise kam es auf der Sinai-Halbinsel zu bewaffneten Angriffen von islamistischen Banden auf ägyptische und israelische Grenzposten. Mursi hatte diese Vorgänge als Anlass genutzt, um eigene Stärke zu demonstrieren und den Kopf des Militärrats, Feldmarschall Tantawi, sowie dessen Stabschef Anan zu entmachten. Seitdem bombardiert die ägyptische Armee immer wieder Beduinen, sowie tatsächliche oder vermeintliche islamistische Banden. Unklar ist, wie viele zivile Ziele getroffen wurden. Dazu sagt Ahmed: „Unter Mubarak hatte der Staat keinerlei Kontrolle über den Sinai. Es gab keine Sicherheit, denn Banden trieben ihr Unwesen.“
Wir fragen nach den Verträgen mit Israel, ein heikles Thema für die Muslimbrüder:
„Wird Ihre Regierung die Politik gegenüber Israel, wie sie unter Sadat und Mubarak entwickelt worden ist, fortführen?“
El-Walid sagt: „Es waren ägyptische Regierungen, nicht Mubarak, die die Verträge mit Israel gemacht haben. Wir mögen die nicht, aber wir respektieren geschlossene Verträge. Es handelt sich um Verträge zwischen Israel und dem ägyptischen Volk.
Wir respektieren die Abkommen, solange Israel die Abkommen respektiert.
Doch wenn das Volk Nachbesserungen verlangt, dann stehen wir dem offen gegenüber.“
Wir wollen wissen: „Wird Israel immer noch Gas zu Vorzugsbedingungen geliefert?“ Antwort: „Ja, aber wir halten die geschlossenen Lieferverträge für ungerecht.
Sie finden unsere diesbezügliche Haltung in unserem Parteiprogramm.“
Schließlich dreht sich das Gespräch um die Frage nach der Entwicklung der ägyptischen Revolution. Uns fällt auf, wie sehr die Partei, die durch die Hoffnungen der Revolution an die Macht gebracht wurde, unter Druck steht. Zum einen muss sie ihren Wählerinnen und Wählern gerecht werden, die von ihnen einen Bruch mit dem alten Regime erwarten. Zugleich müssen sie mit dem Druck des Militärs und der USA umgehen, die beide ihren Einfluss wahren wollen. Auf unsere Frage, wie sie mit diesen Widersprüchen als Regierungspartei umgehen, antwortet el-Haddad: „Als wir in der Opposition waren, fiel es uns leicht, die Institutionen zu kritisieren. Doch es gibt den Wunschzettel und es gibt die Realität.” Als wir nachhaken, sagt er: „Wir sind für den freien Markt. Aber wir müssen auch den öffentlichen Sektor bewahren und schützen.“ Ahmed fügt hinzu: „Ich bin nicht für den Verkauf von Staatsunternehmen.
Das widerspricht dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Aber wir ermutigen ausländische Unternehmen, in Ägypten zu investieren.“
Unsere Gesprächspartner bleiben bei dem Punkt Wirtschaftspolitik einsilbig und verweisen uns auf das Parteiprogramm, das im Internet erhältlich sei.
Die Widersprüchlichkeit in der Wirtschaftspolitik und der gegensätzliche Druck, unter dem die Partei steht, ist offensichtlich. Immer wieder betonen sie, die PFG würde nicht allein regieren, sie stelle schließlich nur vier von über dreißig Ministern.
Man sei offen für den Dialog und würde sich am Mehrheitswillen orientieren.
Ob die PFG sich als revolutionäre Partei verstehe und ob die Revolution noch weiter ginge, wollen wir wissen. Unsere Gesprächspartner weichen aus: Die Revolution ginge so lange weiter, bis jeder Ägypter die Regierung habe, die er wolle.
Konkret wird es endlich beim Thema Militärrat. El-Haddad ist stolz darauf, dass Mursi den „SCAF abgesetzt“ habe. Auf die Nachfrage, warum der SCAF sich das hat gefallen lassen, müssen die beiden Gesprächspartner spontan lachen. Ahmed sagt, dafür gebe es keine wirkliche Erklärung. El-Haddad überlegt und meint: „Wahrscheinlich war sich der SCAF selbst nicht sicher, ob sie das Land beherrschen können. Sie hatten wohl Angst alles zu verlieren, wenn sie die Absetzung von Tantawi nicht akzeptiert hätten.“
Uns interessiert auch das praktische Parteileben. Immerhin hat die Bruderschaft, trotz aller Absplitterungen, die sie seit dem Sturz Mubaraks plagen, immer wieder ihre Verankerung in allen Teilen des Landes und ihre Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ihr politischer Arm, die PFG, hat nach Angaben unserer Gesprächspartner 400.000 Mitglieder (die Gesamteinwohnerzahl Ägyptens liegt bei über 80 Millionen und entspricht damit in etwa jener der Bundesrepublik Deutschland). Unsere Gesprächspartner betonen, dass die Partei nicht auf weiteres Wachstum angelegt sei, damit nicht die fulul, die „Überreste“ des alten Regimes, beiträten. Bislang war Mursi Parteivorsitzender, doch aufgrund dessen Amt als Staatschef werde der Parteivorsitz neu gewählt. Der Parteivorstand umfasse 15 Mitglieder. Jeder Bezirk bestimme per Wahl den eigenen Bezirksvorsitzenden. Es gebe Ortsgruppen in allen Teilen Kairos.
Man müsse sechs Monate Mitglied sein, bevor man für Ämter kandidieren könne.
El-Walid beschreibt das Verhältnis zu den Salafisten: „Wir respektieren uns gegenseitig. Aber es gibt keine formelle Allianz. Wir stehen in einer Art Konkurrenzverhältnis.“
 
17. September: Gespräch mit Hanan el-Badawi, Menna es-Sam und Alyaa Gaber (Bahia ya Masr)
Zum Essen treffen wir uns am Nachmittag mit drei jungen Ägypterinnen, die mit anderen vor etwa einem Jahr eine neue Frauenrechtsorganisation gegründet haben. Hanan el-Badawi, Menna es-Sam und Alyaa Gaber gehören zu den Gründerinnen von „Bahia ya Masr“. Als sie ihren Namen erklären, fällt uns erneut auf, wie eng auch die Aktivität auf dem Gebiet der Frauenrechte mit der Revolution verknüpft ist.
Bahia sei ein Frauenname und stehe zugleich für Anmut und strahlende Schönheit.
In einem der Slogans der Januar-Revolution hätten Demonstranten das strahlend schöne Ägypten der Zukunft (masr bahia) dem korrupten Ägypten der Gegenwart(masr fasida) gegenübergestellt.
Gegründet im März 2012, fordert Bahia ya masr eine 50 %-ige Quotierung des Komitees, das die neue Verfassung ausarbeitet. Bereits die Debatte darüber sei hilfreich gewesen, denn damit hätten sie viele Frauen mobilisieren können. Sie stellten eine Liste mit 100 Frauen auf, die allesamt bereit und geeignet gewesen wären, an dem Verfassungsgebungsprozess mitzuwirken.
Bahia ya masr sei auch aktiv an den Mobilisierungen, die das Land weiterhin kennzeichneten, beteiligt. Insbesondere der Kampf gegen die entwürdigenden „Jungfräulichkeitstests“, denen festgenommene Frauen durch die Sicherheitskräfte unterzogen würden, stünden im Zentrum ihrer Aktivität.
Hanan bestätigt, dass diese Praxis nach wie vor existiert. Der neue Verteidigungsminister selbst habe zugegeben – ‘Ja, Jungfräulichkeitstests, die gibt es nach wie vor. Warum? Weil so festgestellt werden kann,‘ zitiert Hanan den Minister, ‘ob was dran ist, wenn festgenommene Frauen im Nachhinein den Vorwurf erheben, im Gefängnis vergewaltigt worden zu sein.‘
Hanan stellt nüchtern fest: Der Verteidigungsminister habe damit nicht nur eine erniedrigende Praxis als normal verteidigt, er habe sogar im Umkehrschluss die Vergewaltigung jener Frauen gerechtfertigt, die keine ‘Jungfrau‘ mehr seien.
Die Repression des Staatsapparates ist das Hauptthema. Hanan legt Wert auf die Tatsache, dass die alten Kräfte, die Armee und Polizei beherrschten, sich gegenüber dem Westen stets als Verteidiger säkularer Werte gegen den Islamismus präsentiert hätten. Die Wahrung der Würde der Frau gehöre aber nicht dazu.
Wir fragen, ob Frauen auf Kairos Straßen mitmit Belästigungen von Männern konfrontiert sind. Unsere Gesprächspartnerinnen bejahen das. „Ja, die gibt es. Aber es kommt darauf an, wie du als Frau reagierst. Die Revolution hat uns Mut gegeben und uns so auch als Individuen gestärkt.“
Wir fragen, ob Bahia ya Masr sich als „feministisch“ definiert. Hanan und Menna verneinen dies. „Wir sind keine Feministinnen, aber wir kämpfen für die Rechte der Frau. Das sind unsere Rechte als Staatsbürgerinnen.“
Ein großes soziales Problem sei, dass in Ägypten die Kindererziehung reine Privatsache sei. Dies sei für die Minderheit der reichen Familien kein Problem, denn es gebe Kindergartenplätze und Erzieherinnen rund um die Uhr, wenn man zahlen könne. Doch alle anderen seien sehr von den Großeltern abhängig.
Die Diskussion gleitet auf die Lebensumstände ab. Es zeigt sich für uns, wie sehr die Stabilität des sozialen Umfeldes, gerade auch des Wohnumfeldes, eine Rolle in Ägypten spielt. So lässt sich auch erklären, warum die Kriminalität in einer Megastadt wie Kairo bei all der Armut so verhältnismäßig gering ist. Denn die Miethöhe unterlag bislang einer gesetzlichen Regulierung, die Mietpreissteigerungen unterband.
Zugleich konnte die Wohnung eines Bewohners an seine Kinder weitervererbt werden. Beides ist Resultat eines staatlich-regulierten Kapitalismus, wie er unter Nasser geschaffen wurde. Das führt dazu, dass ganze Generationen in Hochhäusern gemeinsam aufwachsen, in denen sie weiterleben. In vielen Hochhäusern kennen sich alle untereinander seit ihrer Kindheit. Dies führt zur Herausbildung sozialer Netzwerke, die ein Gefühl von Sicherheit erzeugen.
Das federt auch die Auswirkungen der Armutslöhne und der fehlenden öffentlichen Sozialeinrichtungen ab. Eine unserer Gesprächspartnerinnen lebt in einer Wohnung mit vier Zimmern und zahlt nur 20 ägyptische Pfund, das sind weniger als drei Euro – pro Monat! Sie hat die Wohnung von ihrer Mutter geerbt, und diese wiederum von ihrer Mutter. Doch längst nicht alle Ägypter leben mehr in dieser Sicherheit.
Unter Mubarak wurde das Gesetz zur Regulierung des Wohnungsmarktes, unter großem Beifall internationaler „Experten“, aufgehoben,.
 
17. September: Hossam Hamalawy, Hisham Fouad, Ahmed Nour (Zentrum für sozialistische Studien)
Am Abend fahren wir nach Giza, um im „Zentrum für sozialistische Studien“ Hossam Hamalawy, Hisham Fouad und Ahmed Nour zu treffen. Alle drei sind Aktivisten der Gruppierung „Revolutionäre Sozialisten“, die das Zentrum 2003 gegründet haben. Hossam ist ein bekannter Journalist und Blogger (www.arabawy.org), Hisham engagiert sich im Rahmen der NGO Awlad al-Ard („Kinder der Erde“), die die Entwicklung von Arbeitskämpfen in Ägypten dokumentiert und analysiert.
Das Zentrum macht einen belebten und frisch renovierten Eindruck. Nebenan treffen sich verschiedene kleine Gruppen von Studierenden und ArbeiterInnen, die miteinander diskutieren. Hossam erzählt, dass das nicht immer so gewesen sei. Zu Beginn seien
die Räume in einem heruntergekommenen Zustand gewesen. Man habe sich heimlich in monatlichen oder wöchentlichen Abständen getroffen. Doch mit der Revolution habe der Ort seinen Charakter verändert. Er sei Anlaufstelle für Diskussionen und die Vorbereitung von Aktionen geworden. Letztes Jahr, nach dem Sturz Mubaraks, hätten sie Künstler der Revolution aufgerufen, den Ort zu dekorieren – mit Erfolg. Die Wände zieren heute zahlreiche kleine Kunstwerke: Bunte Graffiti, die Motive und Märtyrer der Revolution zeigen. Vieles ist humorvoll und alles ist in klaren Linien und Farben gehalten.
Mittlerweile gibt es Ableger im Land, weitere Zentren für sozialistische Studien – so im Industriebezirk Mansura, sogar in der Oasenstadt Fayum. Dies reflektiert den Aufschwung der „Revolutionären Sozialisten“ als Organisation, der allerdings erst mit den Konfrontationen im November und Dezember 2011 eingesetzt hat. Damals haben heftige Straßenkämpfe vor dem Innenministerium zu einer Zuspitzung geführt.
Viele junge Leute haben verstanden, dass die Revolution sich in einem instabilen Zwischenstadium befindet. Wenn sie nicht fortgeführt und vertieft würde, sei die Gefahr groß, dass die alten Kräfte wieder mehr an Einfluss gewinnen würden und alles zerschlagen, was erreicht worden ist. Drei der Genossen von Hossam drohte im Dezember 2011 ein Prozess wegen Hochverrat – an ihnen sollte ein Exempel statuiert werden.
Es war die Solidarität vieler anderer, die verhinderte, dass es zum Prozess kam.
Ein Teil der Muslimbrüder wollte den Prozess und hetzte gegen die „Revolutionären Sozialisten“ als Staatsfeinde, andere Muslimbrüder solidarisierten sich dagegen.
Das zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Islamisten, auch im Verhältnis zur revolutionären Linken. Hossam sagt: „Ich kann mich nicht erinnern, wie oft ich schon gehört habe, die Islamisten hätten nun alles übernommen. So hieß es, als nach dem Sturz Mubaraks das erste Mal der Tahrirplatz geräumt wurde; so hieß es auch nach dem Novemberaufstand. Ich habe das x-mal gehört, die Islamisten hätten alles gekapert. Das ist einfach lächerlich.“
„Präsident Mursi ist nicht allmächtig. Tatsächlich ist er viel schwächer, als er aussieht. Er sitzt zwar auf dem Chefsessel, aber hat keine wirkliche Kontrolle. Deshalb schwankt er, je nachdem, von wo der Druck am größten ist. Überall gibt es Streiks, in jedem Sektor. Selbst die Polizei ist derzeit nicht kontrollierbar. Letzte Woche gingen verschiedene Teile der Militärpolizei aufeinander los, nachdem es in einer Einheit zu einer Meuterei gekommen ist.“
„Selbst wenn wir auf die extremen Salafisten blicken, müssen wir feststellen,“ so Hossam, „dass es zwischen ihnen tiefe Widersprüche gibt. Die Anhänger der Salafisten sind in der Regel ärmer als die der Muslimbrüder, das führt zu noch tieferen inneren Spannungen. Viele Arme und Tagelöhner haben sich Bärte wachsen lassen undnennen sich selbst Salafisten. Aber sie sind auch Teil der Streikbewegungen. Salafistische Arbeiter beteiligen sich an Streiks, obwohl ihre Scheichs ihnen Freitags in der Moschee sagen, Streiks seien verboten.“
Ahmed Nour ergänzt: „Diese Widersprüche bei den Islamisten konnten unter Mubarak nebeneinander stehen bleiben, weil ihre Organisationen nicht dem Praxistest unterworfen wurden. Unter dem Druck der Revolution aber kann aus einem Riss ein tiefer Graben werden. Deshalb hat die Politik der Muslimbrüder seit Beginn der Revolution auch zu zahlreichen Abspaltungen geführt. Es gab Austritte prominenter Muslimbrüder, es wurde eine ganz neue Partei neben der PFG gegründet.
Dann gab es mit Abd el-Futuh plötzlich einen weiteren Präsidentschaftskandidaten aus den eigenen Reihen, der wesentlich radikaler gegen das Kapital auftrat und zum Beispiel IWF-Kredite ablehnt. Und dann ist der Jugendverband in aller Regel wesentlich revolutionärer als die Mutterpartei, was wenige Wochen nach dem Sturz Mubaraks zu einem Massenausschluss von tausenden Mitgliedern der Jugendorganisation der Muslimbrüder führte. Hintergrund war, dass die Jugend mit der Linken auf Straßen und Plätzen gegen Mubarak und den Staatsapparat gekämpft hat, während die Führung der MB schwankte und zögerte. Die Linke macht einen Fehler, wenn sie diese Risse und Spaltungen negiert und einfach darüber hinweggeht, anstatt sich auf einzelne richtige Forderungen positiv zu beziehen.“
Wir kommen auf die aktuelle Streikwelle zu sprechen. Hossam stimmt dem Eindruck zu, dass viele der Arbeitskämpfe in keiner bewussten Verbindung zueinander stehen. „Wären sie miteinander verbunden“, so Hossam, „dann hätte es schon lang geheißen – Game over. Unsere Politik besteht darin, für die Verbindung der Kämpfe untereinander zu argumentieren, positive Beispiele zu verallgemeinern.“
Eine der Hauptforderungen überall ist Tat’hir – die Säuberung des Betriebs vom alten Management. Wir fragen, ob es Beispiele gibt, wo sich die Arbeiter mit der Forderung durchsetzen konnten? Unsere Gesprächspartner nicken heftig. Ja, in Mahalla, der großen Textilstadt im Nildelta, gebe es dafür Beispiele. Und vor sechs Monaten habe ein landesweiter Postarbeiterstreik zur Entlassung von 32 Generälen geführt. „32 Generäle! Die waren alle bei der staatlichen Post als Manager angestellt,“ erklärt Ahmed. „Schließlich kontrolliert das Militär einen Anteil, der irgendwo zwischen 30 und 45 % liegt. Mursi räumt da aber nicht auf, im Gegenteil. Als er Tantawi und Anan, die Führung des SCAF, abgesägt hatte, da übergab er anderen Generälen die Kontrolle über Gouvernerate (Verwaltungsbezirke) und Managementposten in großen Unternehmen. Klar, dass sich Regierung und Militär einig sind, wenn es gegen Streiks geht.“
Frage: „Gibt es Beispiele für die Unterdrückung von Streiks durch das Militär oder andere bewaffnete Kräfte?“ Hischam sagt: „Ja, die streikenden PetrolJet-Arbeiter wurden von der Polizei angegriffen. Auch gab es einen Vorfall in einer Chemiefabrik. Die haben für das Verteidigungsministerium gearbeitet. Die Militärpolizei ging gegen den Streik vor. Heute haben wir gehört, dass 100 von ihnen vor ein Militärgericht gestellt werden sollen. Die Kollegen haben nun ein Sit-in vor dem Präsidentenpalast organisiert.“
Hossam erzählt: „Es ist besorgniserregend, dass immer mehr Geschäftsleute dazu übergehen, bewaffnete Schläger zu mieten, um Streikende anzugreifen. Das ist der Keim des Faschismus.“ Er nennt dafür zwei Beispiele. Wir fragen zurück: „Ist Salafismus nicht auch eine Form von Faschismus?“ Hossam antwortet: „Nein. Es gibt keine bewaffneten salafistischen Gangs, die Streiks zerschlagen. Ganz im Gegenteil, es gibt Salafisten, die sich selbst an Streiks beteiligen… und die dann mit diesen bewaffneten Banden der Geschäftsleute konfrontiert sind. Es ist doch klar, auf welcher Seite wir in dem Fall stehen.“
Hischam, der selbst gewerkschaftlich engagiert ist, erzählt uns von einer Kampagne für die Freiheit gewerkschaftlicher Organisation:„Es gibt eine große Zahl von Arbeitern, die aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Aktivitäten entlassen oder willkürlich versetzt wurden. Manche stehen vor Gericht. Das betrifft eine große Anzahl von Personen.
Derzeit kommen jede Woche etwa 200 dazu. Ägypten steht wegen solcher Praktiken auf der schwarzen Liste der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.
Die Tatsache, dass nun ein Muslimbruder Arbeitsminister ist, hat nicht zur Verbesserung der Lage beigetragen. Im Gegenteil. Es gibt Versuche, die unabhängigen Gewerkschaften mit juristischen Tricks wieder zu marginalisieren. Internationale Solidarität könnte uns helfen.“
Zum Schluss kommen wir auf die Veränderungen, die seit der Revolution eingetreten sind, zu sprechen. Hossam sagt: „Historisch ging alles auf zwei Bewegungen zurück. Im Jahr 2000 gab es Solidarität mit dem Widerstand in Palästina. Dann kam der Protest gegen den Irak-Krieg hinzu. Erst 2004 kam es zum ersten Protest, der sich auf innerägyptische Themen bezog. Damals ging es bereits um Polizeigewalt. Am Ramsesplatz demonstrierten 500 Menschen gegen Folter. Ein halbes Jahr später gründete sich die Bürgerbewegung „Kefaya“ („Es reicht!“) – eine Kampagne gegen die geplante Übertragung der Präsidentschaft von Hosni Mubarak auf seinen Sohn Gamal.
Es waren immer Minderheiten, die diese politischen Kämpfe führten. Diese Minderheiten erhielten Ende 2006 grosse Unterstützung nachdem der große Textilstreik in Mahalla mit einem Erfolg endete. Damit  haben sich die sozialen Kämpfe zu einem ernstzunehmenden Faktor entwickelt und das Regime mittelfristig ausgehöhlt.
Die Zuspitzung der Forderungen auf den Sturz von Mubarak nach dem Vorbild der tunesischen Revolution und der Kampf um den Tahrirplatz brachten dann die verschiedenen Kämpfe und Bewegungen zusammen. Tahrir ist zum Symbol geworden, weil sich dort die Dinge politisch bündeln.
Bei fast jeder neuen Konfrontation am Tahrirplatz gibt es neue Tote. Die Polizei ist immer noch dieselbe. Sie hat genau dieselben Methoden zur Verfügung, mit denen sie auch schon zu Mubaraks Zeiten arbeitete. Doch die Angst von früher ist gewichen. Sie können die Bewegung  nicht mehr totknüppeln.“
 
18. September: Amr Adly und Ahmed Mossallem (Egyptian Initiative for Personal Rights)
Unser erster Termin am Dienstagmorgen führt uns in den Kairoer Stadtteil Garden City, wo wir mit Amr Adly und Ahmed Mossallem von der „Egyptian Initiative for Personal Rights“ (EIPR) sprechen. Es handelt sich dabei um eine NGO, die sich offenbar im Aufschwung befindet. 60 Personen arbeiten hier, vor einem Monat haben sie völlig neu renovierte Büroräume bezogen. Sie werden unter anderem von der Ford Foundation unterstützt.
Die EIPR bestehe seit 2002, erklärt uns Amr. Es handele sich um eine klassische Menschenrechtsorganisation. Nach der Revolution hätten sie sich entschlossen,
die Organisation auszudehnen. Hinsichtlich der personellen Ausstattung sei es die größte Menschenrechtsorganisation in Ägypten. Doch inzwischen decke die EIPR auch andere Bereiche ab. Neben den Abteilungen für Menschenrechte und Strafrecht gebe es jetzt auch eine Abteilung für Volkswirtschaft. Das sei auch der Grund, aus dem die EIPR Amr als Ökonom eingestellt hat.
Amr ist ein sehr kritischer Ökonom. Er erklärt: „Vor einigen Monaten begannen wir, uns für die Rolle der internationalen Finanzinstitutionen zu interessieren. Ich bekam den Eindruck, dass Institutionen wie der IWF die Einzigen waren, die für Ägypten eine
klare Linie verfolgen. Ihr Ziel ist die Durchsetzung eines unzweideutig neoliberalen Programms.“ Er fügt hinzu: „In Ägypten gibt es aber eigentlich keine rein neoliberale Partei. Angesichts des allgemeinen Armutsniveaus kann keine Partei überleben,
die offen und ausschließlich neoliberale Maßnahmen propagiert. Dennoch haben unter Mubarak und seiner Staatspartei NDP Privatisierungen in großem Umfang stattgefunden. Heute werden 70 % der Kosten im Gesundheitswesen aus privaten Taschen bezahlt.“
Schulden drücken den ägyptischen Staatshaushalt. Vor diesem Hintergrund finden Verhandlungen zwischen der ägyptischen Regierung und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) statt. Amr gibt uns dazu ein von der EIPR verfasstes, kritisches Papier. Er erläutert: „Wir wurden eingeladen, am 4. September die Verhandlungen zu beobachten. Unser Eindruck war, dass die EBWE klar am längeren Hebel sitzt, da der ägyptische Staat dringend Devisen braucht.
Wir finden es alarmierend, dass die EBWE die Bedingungen diktieren kann.“
Amr sagt, der Begriff „Privatisierung“ sei inzwischen verbrannt. Deshalb sei nun allenthalben von „Kommerzialisierung“ die Rede – was aber auf das Gleiche hinausliefe. Es gehe vor allem um die Aufhebung von Subventionen, die für die Armen wichtig seien, z.B. die Subventionierung des Brotpreises.
Ein anderes Problem bestehe in der Art und Weise, wie „Entwicklungsgelder“ von der Bank weitergegeben würden. So sollten kleine und mittlere Unternehmen unterstützt werden. Doch die Gelder flössen in einen Fonds, der intransparent agiere. Niemand außerhalb wisse, nach welchen Kriterien Kredite an Unternehmen weitergereicht würden.
Wir fragen nach der Arbeit der EIPR. Ahmed antwortet: „Wir betreiben aktionsorientierte Forschung. So unterstützen wir mit Argumenten eine Kampagne gegen ein Darlehen durch den IWF, der für das Ende dieses Jahres vorgesehen ist. Wir haben den Eindruck, dass die Mehrheit rein gefühlsmäßig gegen das Darlehen ist. Es ist unklar,
welche Bedingungen der IWF mit dem Darlehen verknüpft. Unser Beitrag ist es, hier Klarheit zu schaffen und Argumente zu liefern.“
Wir fragen, um welche Summe es geht. Ahmed: „Zurzeit verfügt Ägypten über internationale Schulden in Höhe von 30,4 Milliarden US-Dollar. Der IWF-Kredit soll einen Umfang von 4,8 Milliarden US-Dollar haben. Der IWF zielt dabei klar auf Nahrungsmittelsubventionen ab. Im Oktober soll mit Essenskarten experimentiert werden, die die Nahrungsmittelsubventionen ablösen könnten. Außerdem will der IWF die Erhöhung der Mehrwertsteuer – auch das wird die Armen am härtesten treffen.
Ob sich die Regierung damit durchsetzen kann, hängt von den Kräfteverhältnissen ab.“
Amr und Ahmed kämpfen dafür, dass nur diejenigen Subventionen gekürzt werden, die den Reichen nützen, dass Dividenden von Finanztransaktionen besteuert werden, eine einmalige Reichenabgabe eingeführt wird und die Gas-Exportpreise neu verhandelt werden.
 
18. September: Treffen mit dem Vorstand des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes (EFITU)
Die Revolution in Ägypten führt zu einer enormen Politisierung des gesamten Lebens. Dies macht sich an großen wie an kleinen Dingen fest. Auf dem Weg zu unserem nächsten Termin laufen wir an alten Wahlplakaten vorbei, die in Fetzen an der Wand hängen. Sie zeigen den Präsidentschaftskandidaten des alten Regimes, Ahmed Schafik, der gemäß dem offiziellen Endergebnis dem Muslimbruder Mursi nur knapp unterlegen war. Irgendjemand hat handschriftlich darauf geschrieben: „Haben wir nicht schon genug von diesen fulul?“ Der Unmut über die „Überbleibsel“ des alten Regimes ist allgegenwärtig. Denn die, die unter Mubarak in verantwortlichen Positionen saßen, kämpfen weiterhin um die Wiederherstellung ihrer Macht.
Was die fulul mit der neuen Regierung eint, ist die Ablehnung der aktuellen Streikwelle. Im Fernsehen laufen seit gestern Werbespots gegen Streiks. Sie zeigen einen fahrenden Eisenbahnzug, der das Land symbolisiert. Die Parole dazu: „Haltet den laufenden Zug der ägyptischen Entwicklung nicht auf!“
Ein passender Moment für unser Treffen in der Zentrale des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes EFITU. Kamal Abu Aita, der legendäre Anführer des Streiks der Finanzbeamten, Gründer und Vorsitzender des EFITU, begrüßt uns. Neben ihm sitzen ein paar Männer und eine Frau. Die Räumlichkeiten sind ärmlich, die Kollegen wirken abgekämpft. Es geht lebendig zu. Ein ständiges Kommen und Gehen, Handys surren. Die Kollegen wirken dabei sehr zielstrebig.
Kamal betont, die Revolution habe zwar am 25. Januar 2011 begonnen, ihre Wurzeln reichten aber weit zurück. Er nennt die sozialen Kämpfe: die Hungerrevolte von 1977, dann den Mahalla-Streik von 2006. Er berichtet stolz vom Kampf der Finanzbeamten, den er im Dezember 2007 selbst mit angeführt habe. Es sei das erste Mal gewesen, dass Angestellte der Regierung in großem Maßstab revoltierten. 55.000 Beamte seien in den Ausstand gegangen. Eine Sitzblockade vor dem Finanzministerium habe dafür gesorgt, dass nach 11 Tagen alle Forderungen durchgesetzt werden konnten. Aus dem Streikkomitee ging die Gewerkschaft der Finanzbeamten hervor; diese bildete den Kern des unabhängigen Gewerkschaftsdachverbandes EFITU.
Über das Verhältnis zwischen Arbeiterbewegung und der Linken sagt Kamal: „Mubarak stürzte auch über die Arbeiterbewegung. Zu Beginn der Revolution gab es 3000 Streiks.“ Und er fügt hinzu: „Politik ist wichtig. Ich war selbst einmal Abgeordneter, nicht nur Gewerkschafter. Es gibt eine strategische Allianz zwischen Gewerkschaften und der Linken. Ohne diese Allianz wären wir wie ein Körper ohne Hirn.“
Kamal fährt fort: „Vor der Revolution waren die Gewerkschaften von der Politik abgeschnitten. Nun haben wir Kanäle zu politischen Parteien geschaffen. Wir bestehen darauf, dass die Gewerkschaften eine politische Rolle spielen. Ohne die/eine Beziehung zu den Gewerkschaften wäre die Linke geschwächt. Und umgekehrt.“
Nachdem Kamal gesprochen hat, reden andere Kolleginnen und Kollegen. Es wird viel gelacht. Das Verhältnis der Anwesenden untereinander scheint sehr kollegial zu sein.
Alaa Ibrahim sagt: „Nach der Gewerkschaft der Finanzbeamten folgte die Bildung unabhängiger Gewerkschaften für Lehrer und technische Angestellte im Gesundheitswesen. Außerdem bildete sich eine unabhängige Vertretung der Rentner. Mitten im beginnenden revolutionären Prozess wurde am 30. Januar 2011 die Initiative zur Gründung der EFITU bekannt gegeben. Nach Erklärung der Koalitionsfreiheit durch das Arbeitsministerium folgten dann viele weitere Gründungen.
Auf dem Gründungskongress der EFITU am 30. Oktober schlossen sich 76 unabhängige Gewerkschaften zusammen, die 1,4 Millionen Arbeiter repräsentierten.“ Heute seien es schon 2,4 Millionen.
Unsere Gesprächspartner heben ganz besonders hervor, dass die Vorstandswahlen bei der EFITU korrekt und entsprechend internationaler Standards verlaufen seien. Auf dem Gewerkschaftskongress am 30. Januar 2012 seien 21 Mitglieder in das Exekutivkomitees der EFITU unter juristischer Aufsicht und in Anwesenheit von 45 internationalen NGOs gewählt worden.
Fatma Ramadan ergreift das Wort. Sie ist die Streikkoordinatorin der EFITU. Sie organisiert auch den aktuellen Streik der Busfahrer. Fatmas Sicht auf die Vorgeschichte der Revolution deckt sich mit der Darstellung anderer: Ausgangspunkt sei die Solidarität mit den Palästinensern im Jahr 2000 gewesen. Es seien Demonstrationen gewesen, die das erste Mal Linke und Muslimbrüder zusammengebracht hätten. 2002 und später sei eine wichtige Bewegung entstanden, nachdem die Landreform der nasseristischen Ära zurückgedreht worden war – ein weiterer Baustein bei der neoliberalen „Reformierung“ des Landes. Manche Bauern seien gestorben, als sie sich gegen Enteignungen zur Wehr setzten.
Schließlich, als der Textilarbeiterstreik in Mahalla im Dezember 2006 erfolgreich durchgeführt wurde, sei die Arbeiterbewegung Teil der Bewegung geworden,. Das habe ein Erdbeben ausgelöst. Innerhalb eines Jahres folgten 700 Streiks in allen möglichen Branchen. Die Streikwelle und die zum Teil brutale Reaktion des Staates seien wichtig gewesen, sagt Fatma, weil für viele das erste Mal spürbar geworden sei, dass sich die Regierung – anders als behauptet – im Konflikt mit den Geschäftsleuten nicht neutral verhalte. In Mahalla, sagt Fatma, seien auch das erste Mal Bilder des Präsidenten Mubarak zerrissen worden. In bürgerlichen Demokratien wie in Deutschland habe man keine Ahnung davon, was das für ein Schritt sei.
Fatma fasst zusammen: „Die Revolution war das Ergebnis einer langen Kette von Kämpfen, die ihr den Weg geebnet haben. In der Revolution geht es nicht nur um Demokratie, sondern auch um gerechte Löhne und Arbeitsplatzsicherheit.“
„Überhaupt“, sagt Fatma, „auf dem Tahrirplatz waren im Januar und Februar 2011 etwa 500.000 Menschen. Wer waren diese Leute, wenn nicht zum großen Teil Arbeiter? Drei Tage vor Mubaraks Rücktritt bekamen alle Beschäftigten eine Woche frei.
Die Hoffnung der Regierung war, sie würden zu Hause bleiben und die Bewegung würde so geschwächt/könnte so geschwächt werden. Sie hatten sich getäuscht.“ Fatma sagt, der Sieg der ägyptischen Revolution steh auf den Schultern der Arbeiterkämpfe. Sie beschreibt anhand der Streikzahlen das Auf und Ab der Revolution. Viele Arbeitskämpfe würden gar nicht öffentlich wahrgenommen. In den ersten sechs Monaten 2011 hätte es 900 Streiks gegeben, davon die Hälfte in den Monaten Januar und Februar. Zwischenzeitlich seien die Zahlen zurückgegangen. Doch Mitte 2012, seit Übernahme der Präsidentschaft durch Mursi, erleben wir wieder eine Zuspitzung der sozialen Konfrontationen. „In den letzten zwei Monaten gab es über 400 Streiks,“ sagt Fatma.
Das Verhältnis zur regierenden Muslimbruderschaft ist schlecht. Kamal ergreift noch einmal das Wort und sagt, „die Muslimbrüder haben dieselbe Wirtschaftspolitik wie das Mubarak-Regime. Wir haben mit ihnen so häufig diskutiert. Schließlich waren es Arbeiter, von denen sie die Stimmen erhalten haben.
Aber sie sind gegen Arbeiterrechte. Der Mindestlohn liegt offiziell bei 1600 Ägyptische Pfund, das entspricht 200 Euro pro Monat. Aber tatsächlich verdienen viele nur 400 Pfund im Monat. Dann versprach die Regierung einen Mindestlohn von 700 Pfund, aber nichts passierte. Diese Regierung ist eine kapitalistische Regierung. Vor der Revolution sagten die Muslimbrüder, IWF-Kredite seien eine „Sünde“, haram. Jetzt sagen sie, der neue IWF-Kredit, den Mursis Regierung gerade aushandelt, sei nicht haram – denn es werde ja nur ein Zinssatz von 1 % erhoben! Es sind diese Leute, von denen wir uns anhören müssen, dass die Arbeiter, die sich heute im Streik befinden, gar nicht an der Revolution teilgenommen hätten. Und dass sie nun zurück an die Arbeit gehen sollten.“
Die neue Verfassung, die gerade ausgearbeitet wird, werde voraussichtlich das Streikrecht einschränken. EFITU werde dagegen kämpfen. Kamal sagt:
„Wir sind bereit, beim bevorstehenden Verfassungsreferendum mit „Nein“ zu stimmen, sollte der Verfassungsentwurf grundlegende Arbeiterrechte ignorieren.“
 
18. September: Treffen mit Ahmad Fadl, Mohammed Hazem, Hazem Sharif (Studierende an der GUC)
Am späteren Nachmittag treffen wir im traditionsreichen Café Riche Mohamed, Hazem und Ahmed, drei Studenten und Aktivisten der German University of Cairo (GUC).
Sie studieren an dieser Privatuniversität, die zahlreiche Kooperationen mit deutschen Universitäten und Institutionen pflegt.
„Die Revolution erreichte natürlich auch die GUC,“ erzählt Hazem. „Zu Beginn kam es zu einem eintägigen Streik, im Laufe dessen 27 Studierende an einem Sit-in teilnahmen. 15 von uns wurden am nächsten Tag auf Anordnung der Uni-Leitung gar nicht erst auf den Campus gelassen. Sie haben von uns verlangt, dass wir ein Schreiben der Eltern mitbringen, in denen sie sich zu unserem Verhalten äußern sollten.“
Einige seien am Ende sogar für einige Zeit exmatrikuliert worden. Hazem durfte bis heute nicht an die GUC zurückkehren.
Ein wichtiger Kristallisationspunkt der politischen Bewegung auf dem Campus sei die Forderung nach einem Vertretungsorgan der Studierenden. Zu diesem Zweck, so erzählen uns die Studenten, sollen am 23. September Wahlen stattfinden.
Der Knackpunkt: Natürlich seien diese Wahlen inoffiziell, da das Präsidium der Universität jede Form von Vertretungsorgan der Studierendenschaft verhindern wolle. Nach unserer Rückkehr in Deutschland erfahren wir dann auch, dass Ordner die Aktivisten, die transparente Wahlurnen bei sich trugen, an diesem Tag am Betreten des Universitätsgeländes gehindert haben. Es soll zu Handgreiflichkeiten gekommen sein.
Der Protest zieht sich nun schon seit eineinhalb Jahren hin, in denen immer wieder verhandelt worden ist. Zwischenzeitlich ließ sich die Unileitung auf eine Art Studierendenrat ein – aber nur unter strengen Auflagen. Irgendwann kam die Mitteilung per E-Mail, dieser Rat sei aufgelöst.
Die Universität setzt alle Mittel ein, um ein Selbstverwaltungsgremium zu verhindern. Überwachung und Sanktionen, Drangsalierungen durch Ordner, die Aussetzung des Lehrbetriebes – zwischenzeitlich kam es sogar zum Einsatz von Militär, um eine Demonstration aufzulösen.
Die Studenten vermuten, das scheinbar irrationale Verhalten der Uni-Leitung könne rationale Gründe haben. Ein Vertretungsorgan der Studierenden könne Einblick in die Finanzen fordern. Schließlich handele es sich um eine Privatuni, für die die Studierenden oder ihre Eltern bezahlten. Im Übrigen erhalte die GUC auch Förderung aus deutschen Steuergeldern in beträchtlicher Höhe. Wir erfahren, dass Ashraf Mansour, Vorsitzender des Aufsichtsrats, eine ganze Reihe von Verwandten an der Uni in verantwortlichen Posten untergebracht hat.
Offenbar ist nicht nur die GUC Ort universitärer Auseinandersetzungen im revolutionären Ägypten. An der Amerikanischen Universität kam es aus Protest gegen die Anhebung der Studiengebühren um 7 % zu einem Boykott von Vorlesungen.
Am selben Tag, an dem wir das Gespräch führten, wurde die besetzte Nil-Universität im Industrievorort „6. Oktober“ gewaltsam geräumt. Dort ging es um Gebäudeteile, die sich auf einem Grund in privatem Besitz befinden. Der Boden wurde unter Nasser verstaatlicht und diente dann als Bauland für Unigebäude.
Nach der neoliberalen „Reform“ unter Mubarak hat der ehemalige Grundbesitzer 2006 das Land zurückerhalten. Zum Dank unterband er daraufhin den Zugang zu den Unterrichtsgebäuden, die auf „seinem“ Land stehen.
Die sozialen Konflikte haben viele Facetten. Die Methoden des alten Regimes sind immer noch allgegenwärtig. Die Studierenden bestätigen uns, was alle anderen erzählt haben. Die Revolution sei im ersten Schritt erfolgreich gewesen. Jetzt gehe es darum zu kämpfen, um die Revolution weiter zu entwickeln.
 
18. September: Gespräch mit Ola Shahba, Partei der Sozialistischen Volksallianz
Am Abend  treffen wir Ola Shahba in einem Stadteilbüro im Distrikt Doqqi. Wir kennen Ola bereits von einem Vortrag den sie im Januar 2012 auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zur Entwicklung der ägyptischen Revolution gehalten hat.
In Doqqi geht sie detailliert auf die Frage nach dem Charakter ihrer Organisation, der Partei der Sozialistischen Volksallianz (PSVA), ein.
„Die PSVA ist eine breit angelegte sozialistische Partei, die unterschiedliche Strömungen der radikalen Linken in sich vereint. Wir haben im Unterschied zu anderen radikalen Linken die Parlamentswahlen 2011 nicht boykottiert, sondern mit anderen Kräften einen linken Block unter dem Namen Ath-thaura mustamirra („Die Revolution geht weiter“) gebildet. Unsere Partei war der Motor bei der Bildung dieses Wahlbündnisses. Dieser Block, in dem sich auch Organisationen wie die Sozialistische Partei oder die Partei Freies Ägypten befanden, konnte 7 Mandate erringen. Drei Sitze davon gingen an die PSVA. Zu den Präsidentschaftswahlen 2012 hatten wir erneut Diskussionen, ob man sich überhaupt an diesen beteiligen soll. Die Mehrheit der PSVA sprach sich zunächst für die Unterstützung eines abtrünnigen Muslimbruders aus, Abdel Futuh. Es war lange Zeit nicht klar, dass Hamdin Sabahi antreten würde, sonst hätten wir uns für ihn entschieden.“
In der zweiten Runde, das heißt der Stichwahl zwischen Mursi und dem Mubarak-Mann Schafik, hat die PSVA zur Wahl Mursis aufgerufen. „Manche Leute warfen uns Verrat vor,“ so Ola. „Doch wenn Schafik gewonnen hätte, dann hätte sich das Gefühl einer tiefen Niederlage ausgebreitet. Mursi ist ein Hindernis, klar.
Doch seine Wahl hat auch Vorteile. Die Muslimbrüder können sich nicht mehr als Opfer darstellen. Außerdem weiß Mursi, dass er nur mit linken Stimmen gewinnen konnte.
In der erste Runde erhielt er 6 Millionen Stimmen, in der zweiten Runde waren es 12 Millionen. Das heißt, er kann nicht einfach durchregieren.“
Überhaupt seien die Muslimbrüder schwächer geworden. Gegenüber der Parlamentswahl vom Herbst 2011 habe Mursi ohnehin schon reichlich eingebüßt.
Ola bestätigt das Bild einer zerrissenen islamischen Partei. „2011 wurden 4000 Mitglieder der Jugendsektion der Brüder ausgeschlossen. Manche gingen zu Futuh. Einer ihrer bekanntesten Anführer ist nun bei der „Volksströmung“ um Sabahi. Wir haben damals einzelne der ausgeschlossenen Muslimbrüder in unsere Ortsgruppe eingeladen. Denn diese jungen Leute wollten die Revolution fortführen.
Zu dieser Zeit aber saß die Muslimbruderschaft mit dem SCAF an einem Tisch, um zu verhandeln.“
Wir fragen nach der Stärke der PSVA. Ola erläutert: „Wir haben 7000 Mitglieder.
Im Großraum Kairo gibt es 22 Ortsvereine, davon 15 mit eigenem Büro. Wir konzentrieren uns auf die Gemeinden, in denen wir vertreten sind. Ich unterstütze sie und reise deshalb viel im Land herum.“
Wir wollen wissen: Welche Kampagnen unterstützt die PSVA derzeit?
Ola zählt eine Reihe von Themen auf, die uns während unserer Reise immer wieder begegnen: „Eine Kampagne heißt „Wir werden nicht zahlen“. Es geht darum, aus Protest gegen die zu hohen Lebenshaltungskosten die Gebühren für Elektrizität, Müllabfuhr, Wasser usw. nicht zu entrichten. Wir unterstützen alles, was diese Regierung boykottiert. Außerdem sind wir aktiv in Initiativen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den informellen Siedlungen, die reine Slums sind.“
„Jüngst sind die Medien so auf einen dieser Slums aufmerksam geworden, der sich in unmittelbarer Nähe zu den Nile Towers befindet,“ so Ola. Sie meint damit zwei weithin sichtbare Türme, die ein großes Einkaufszentrum beherbergen – ein Projekt, das der bekannte christliche Geschäftsmann Nawiris am rechten Nil-Ufer hat errichten lassen.
„Natürlich sind wir auch gegen den IWF-Kredit aktiv. Und wir beteiligen uns an der Debatte um den Verfassungsentwurf. Dazu haben wir eine eigene Arbeitsgruppe gebildet. Nach dem derzeitigen Stand werden wir aber gegen den Verfassungsentwurf stimmen.“
Schließlich betont Ola, dass einige Mitglieder der PSVA bis zu zwanzig Jahre Erfahrung in/mit  Arbeiterbewegungen haben. „Wir hoffen, soziale und politische Fragen zusammenzubringen.“
Drei intensive Tage in Ägypten haben uns vor Augen geführt, dass viel auf dem Spiel steht, sofern die Revolution nicht erfolgreich verläuft. Das alte Regime ist verhasst, die Muslimbrüder, die den alten Staat übernommen haben, sind dabei, das Vertrauen vieler ihrer Wähler zu verspielen. Die Linke ist noch zu schwach und zersplittert, um Millionen von Menschen eine Perspektive zu bieten. Keiner weiß, wohin die Reise geht.
Zugleich geben uns der Mut, das Engagement, der Stolz und die Leidenschaft der Aktivistinnen und Aktivisten Zuversicht, dass sie ihren Kampf erfolgreich weiterführen werden. Dafür verdienen sie alle unsere Unterstützung.
 
2. Reiseteil: TUNESIEN
Am Nachmittag des 19. September landen wir in Tunis. Tunis ist sehr viel grüner und beschaulicher als die lärmende ägyptische Hauptstadt in der ca. 20 Millionen Menschen leben. Ungeachtet dessen leben im Großraum Tunis immer noch rund 3 Millionen Menschen. In seinen Vororten befinden sich zum Teil bedeutsame Standorte der Zulieferer-Industrie, zum Beispiel für europäische Autowerke.
 
19. September: Taher Berberi, Belgacem Ayari (UGTT)
Wir treffen uns am Nachmittag mit Belgacem Ayari, dem stellvertretenden Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes (Union Générale Tunisienne du Travail, UGTT) und Taher Berberi, Generalsekretär der Gewerkschaft für die Metall- und Elektroindustrie innerhalb der UGTT. Die Tradition der UGTT reicht bis in die Ära des Unabhängigkeitskampfes gegen die französische Kolonialmacht zurück. Sie spielte auch während der revolutionären Erhebung im Dezember 2010 und Januar 2011 eine bedeutsame Rolle. Während die nationale Führungsspitze der Gewerkschaft von der Diktatur des Präsidenten Ben Ali kontrolliert und korrumpiert worden ist, dienten lokale Büros der UGTT als Sammlungspunkte des Protests.
Belgacem Ayari geht anders an die sozialen Spannungen heran als Kamal Abu Aita, der Vorsitzende der ägyptischen EFITU. Während in der Darstellung der Kollegen bei der EFITU immer sehr viel Stolz über die große Zahl der Streiks mitschwang, scheint Ayari sie weniger als eine Inspiration, denn als Gefahr für den sozialen Frieden zu verstehen. Gleichzeitig unterstreicht er die erzielten Erfolge an der Lohnfront:
„Wir haben in Tunesien mit schweren sozialen Problemen zu tun. In der kritischen Übergangsphase nach dem Sturz Ben Alis haben wir eine wichtige Rolle gespielt, die Situation zu entschärfen. Die UGTT hat eine Erhöhung der monatlichen Bezüge im öffentlichen Dienst für 100.000 Beschäftigte in Höhe von 70 Dinar herausgeholt.“
70 Dinar – das entspricht etwa 35 Euro. Das ist angesichts des niedrigen Lohnniveaus in Tunesien für manche Einkommensbezieher nicht wenig.
Ayari nennt uns weitere Zahlen, die sich sehen lassen können: 2011 seien die Gehälter der Beamten um 4,7 % gewachsen und die der Angestellten im privaten Sektor um 5 %. 2012 hätten zwei Millionen Arbeiter im Privatsektor eine 7%-ige Lohnsteigerung erhalten. Die UGTT verlange nun, diesen Zuwachs auch auf die Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst auszuweiten.
Er sagt: „Der Mindestlohn liegt bei 321 Dinar, das sind ca. 160 Euro. Der Druck der starken Arbeiterbewegung hat dazu geführt, dass die islamische Regierungspartei En-Nahda, die bei den Wahlen nach der Revolution die meisten Stimmen bekommen hat, den Mindestlohn um 30 Dinar angehoben hat.“
Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Spannungssituation bemühe sich die UGTT-Führung um die Aushandlung eines Sozialvertrages mit der Regierung. Ayari:
„Wir kommen gerade von einer Sitzung, in der wir mit der Regierung und der UTICA [tunesischer Unternehmerverband] über den Sozialvertrag gesprochen haben. Wir haben uns geeinigt, dass der Vertrag am 14. Januar, dem zweiten Jahrestag des Sturzes Ben Alis, unterzeichnet werden soll.“
Später erfahren wir, dass ein sogenannter Kongress des Nationalen Dialogs, der dem Sozialvertrag vorausgehen soll, tatsächlich am 16. Oktober unter Beteiligung von Staatspräsident Mohamed Moncef Marzouki und Regierungschef Hamadi Jebali stattfand.
Auch Taher Berberi betont die angespannte soziale Situation. 20 Prozent der Bevölkerung lebten in Armut. Wir fragen ihn, wie hoch die Arbeitslosigkeit sei.
Er antwortet: „Die Arbeitslosigkeit ist unterschiedlich hoch, je nach Region. An der Küste im Norden gibt es Orte mit 10 % Arbeitslosen. In Sidi Bouzid, der Wiege der Revolution, liegt sie bei 24 %. Allerdings sind viele derjenigen, die als beschäftigt gelten, gar nicht fest angestellt. Mohamed Bouazizi, der sich in Sidi Bouzid selbst anzündete, und so die Revolution auslöste, war ein fliegender Gemüsehändler. So wie er schlagen sich viele durch und leben von der Hand in den Mund.“
Wir fragen ihn nach den konkreten Kampfbedingungen für Gewerkschaften. Berberi sagt: „Ein legaler Streik muss zehn Tage im Voraus angekündigt werden, um gegebenenfalls doch noch eine Verhandlungslösung zu ermöglichen. Für die 70 Dinar im öffentlichen Dienst hat es bis vor kurzem in vielen staatlichen Einrichtungen [legale] Streiks gegeben.“
Er fügt hinzu: „Es gibt auch viele wilde Streiks, die illegal sind. Vor allem in Betrieben privater Unternehmen.“ Als Beispiel nennt er den aktuellen Kampf bei LEONI, einem deutschen Unternehmen, das in Tunesien Kabelbäume für die europäische Automobilindustrie herstellt. Im LEONI-Werk in Ez-Zahra im Bezirk Ben Arous, einem Industrievorort südlich von Tunis, hielten die 600 Beschäftigten zum Zeitpunkt unseres Besuches bereits seit fast zwei Monaten das Werk besetzt, nachdem die bevorstehende Schließung bekannt gegeben worden war.
„Der Hintergrund für die Schließung“, so Berberi, „ist, dass in diesem Werk höhere Löhne bezahlt werden müssen als in anderen. LEONI hatte das Werk vom französischen Hersteller VALEO übernommen, die haben mehr gezahlt. Nun soll alles in das weiter südlich gelegene LEONI-Werk bei Sousse verlegt werden, um die Löhne weiter zu drücken. Gleichzeitig werden immer mehr Arbeitsplätze der Stammbelegschaft umgewandelt und von Leiharbeitern verrichtet.“
Berberi erzählt uns, die Verhandlungen der UGTT mit dem Unternehmen stünden kurz vor dem Abschluss. Ruis, der Vorstandsvorsitzende von LEONI-Tunesien, biete zwei  Monatslöhne pro Beschäftigungsjahr als Entschädigung an. Die letzte Forderung der UGTT habe bei 2,5 Monatsgehältern gelegen.
Zusammen mit Berberi vereinbaren wir, das Werk am nächsten Morgen zusammen mit dem zuständigen Bezirkssekretär der UGTT zu besuchen, damit wir uns selbst ein Bild von der Lage vor Ort machen können.
 
19. September: Salem Ayari, Saida Trabelsi (Coordination nationale de l’union des diplomés chômeurs)
Doch zuvor treffen wir am Abend im Hotel noch Salem Ayari und Saida Trabelsi, die beide die „nationale Koordination des Verbandes der arbeitslosen AkademikerInnen“ vertreten. Beiden steht der Kampf ums tagtägliche Überleben ins Gesicht geschrieben.
Salem erklärt: „Ich bin seit 2004 arbeitslos, wie viele. In Tunesien gibt es 315.000 arbeitslose Akademiker, davon sind 67 % Frauen. Unter Ben Ali hatten jene die besten Aussichten auf einen Arbeitsplatz, die auch der Staatspartei RCD nahe standen.
Vor diesem Hintergrund haben wir im Jahr 2006 unsere Organisation gegründet, mit 70 Leuten. Wir waren an einer der Universitäten aktiv. Doch wir wurden sofort verboten. Viele landeten im Gefängnis.“
Die UGTT habe die Arbeitslosenselbsthilfeorganisation im Untergrund unterstützt. Dennoch sei die Unterdrückung so stark gewesen, dass am Vorabend der Revolution nur noch 20 Mitglieder übrig geblieben seien. Nun sei die Organisation auf etwa 10.000 Mitglieder angewachsen. Wir fragen nach, wie es zu diesem enormen Wachstum gekommen sei.
Salem antwortet: „Als am 17. Dezember 2010 der Aufstand gegen Ben Ali begann, da haben sich vor allem junge Leute daran beteiligt. Nachdem seine Diktatur gebrochen war, konnten sich die jungen Leute frei bewegen. Wir haben eine Reihe von Veranstaltungen durchgeführt. Schließlich änderten sich die sozialen Probleme kaum. Und mit jedem Sommer strömen neue Leute auf den Arbeitsmarkt. Allein im Juli 2012 haben wir wieder 70.000 neue arbeitslose Akademiker hinzubekommen. Im Juli 2013 werden 65.000 weitere erwartet.“
Der Verband der arbeitslosen AkademikerInnen sei in Ortsvereine aufgeteilt, die sich auf einen minimalen Beitrag ihrer Mitglieder stützten – 1 Dinar pro Monat. Sie würden aber auch von der UGTT und der Liga für Menschenrechte unterstützt. Im Moment habe EuroMed, das multistaatliche Kooperationsprogramm im Rahmen der Union für das Mittelmeer, die Miete des Büros für ein Jahr übernommen. Dringend gebraucht würden allerdings funktionsfähige Computer.
Wir wollen wissen, ob sich denn unter der En-Nahda-Regierung, die aus den Wahlen im Oktober 2011 siegreich hervorgegangen ist, gar nichts verändert habe.
Salem antwortet: „Ab Oktober 2012 werden ca. 100.000 arbeitslose Akademiker pro Monat eine Unterstützung in Höhe von 150 Dinar [etwa 75 Euro] erhalten. Das betrifft aber nur jene Akademiker, die 29 Jahre und älter sind. Wir fordern eine Unterstützung von 400 Dinar – für alle. Nur dann kann man davon auch die Miete zahlen.“
Er fügt hinzu: „Außerdem hat zwar die jetzige Regierung 25.000 neue Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen. Doch davon haben nur 2500 arbeitslose Akademiker profitiert. Und die meisten dieser 2500 stehen En-Nahda nahe.“ Er taxiert die Gesamtzahl derjenigen, die als En-Nahda-Anhänger unter Ben Ali im Gefängnis saßen und nun über das Arbeitsbeschaffungsprogramm an einen Arbeitsplatz gekommen sind, auf 9000.
„Bei den privaten Unternehmen hat sich gar nichts getan. Überhaupt hat sich in sozialer Hinsicht nicht wirklich etwas geändert – es ist schlimmer geworden. Auch die Korruption!“ Er meint: „Es wird bald zu einem neuen Aufstand kommen, weil die Jugend die Situation nicht mehr ertragen kann!“
Dann denkt Salem nach und sagt, viele Jugendliche würden auch über die Flucht nach Europa als eine Alternative nachdenken. Viele flöhen mehrfach nach Lampedusa und würden wieder zurückgeschickt. Saida mischt sich ein. Beide betonen: „Aber wir wollen hier bleiben und kämpfen. … Hoffentlich gibt es bald eine zweite Revolution.“
Es gebe jetzt neue Möglichkeiten, sich zu organisieren. „Jetzt sind wir frei!“, sagen sie. „Früher wurden wir auf den Straßen ständig von der Polizei kontrolliert. Wir nutzen unsere neue Freiheit. Wir nehmen an der Vorbereitung für das Weltsozialforum teil, das im März in Tunesien stattfinden soll. Für den 29. September plant die Koordination eine große Demonstration, um den Widerstand voranzubringen.“
Nach unserer Rückkehr erfuhren wir, dass die Demonstration tatsächlich stattgefunden hat. Eingezwängt von einem Kontingent der Aufstandsbekämpfungs-Polizei riefen die Demonstranten Slogans wie: „Arbeit, Freiheit, Würde!“, „Was ist mit den Versprechen – Regierungslügner!“ Oder auch: „Weder Angst noch Terror, die Straße gehört dem Volk!“
 
20. September: Besuch des besetzten LEONI-Werks in Ez-Zahra bei Tunis
Einführendes Gespräch mit Mohammed Ali Boughdiri (UGTT-Bezirkssekretär)
Um acht Uhr treffen wir uns mit Mohammed Ali Boughdiri im Büro der UGTT in Ben Arous, einem industriell geprägten Vorort von Tunis. Mohammed ist der leitende Sekretär im Bezirk Ben Arous. Hier liegt auch der kleine Ort Ez-Zahra, wo sich das besetzte Werk des deutschen Kabelbaum-Herstellers LEONI befindet. Das Werk soll geschlossen werden. Der Hintergrund ist eindeutig: Auch wenn die meisten hier nicht viel mehr als den Mindestlohn erhalten, ist das Lohniveau in dem Werk höher, als in den anderen LEONI-Werken.
Mohammed Ali Boughdiri freut sich über den Besuch aus Deutschland. Denn das,
so sagt er, „erhöht den Druck auf LEONI.“ Er erklärt uns die Rahmenbedingungen. LEONI beschäftige zehn bis elf Tausend Mitarbeiter in den Werken von Sousse (Mitteltunesien), Mateur (zwei Werke nördlich von Tunis) und in Ez-Zahra südlich der Hauptstadt. Nachdem das Werk in Ez-Zahra im Jahr 2008 vom französischen Konkurrenten VALEO übernommen wurde, arbeiteten dort noch 1200 Beschäftigte. Im Werk von Ez-Zahra würden Kabelsysteme für Autos der Marke FIAT hergestellt.
Mohammed führt aus: „Anfangs versprach uns LEONI: Stellen und Standort werden erhalten. Doch von den ursprünglich 1200 Stellen sind nur noch 600 geblieben.
Als es infolge der krisenhaften Entwicklungen auf dem Weltmarkt Schwierigkeiten gab, hat die Gewerkschaft noch Verständnis gezeigt und Kurzarbeit zugestimmt.
Doch LEONI hat dieses Entgegenkommen der Mitarbeiter nicht gewürdigt. Nun soll das Werk ganz dicht gemacht werden.“
Wir teilen ihm mit, dass die Auftragslage nicht so schlecht zu sein scheint. LEONI-Deutschland hat von unserem Besuch erfahren und betont, in ganz Tunesien würde das Unternehmen gerade 1500 neue Arbeitsplätze schaffen.
Wir fragen Mohammed: Warum macht LEONI Ez-Zahra zu und rekrutiert zusätzliche Mitarbeiter in Sousse?
Er antwortet: „Ökonomisch macht das nicht unbedingt Sinn. Die Löhne sind in Sousse etwas geringer, dafür sind die Transportkosten höher. Denn Ez-Zahra liegt nahe des Hafens von Ben Arous, wo die Waren ausgeschifft werden. Am Anfang dachten wir noch, die Standortmiete sei zu hoch in Ez-Zahra. Aber die halbe Million Euro, die die Miete für das Werk pro Jahr kostet, würde nun sogar durch den Staat übernommen werden, das versprach der Industrieminister. Der Vorstandsvorsitzende von LEONI-Tunesien, Ruis, hat das abgelehnt.“
Wir fragen nach, was die Arbeiter verdienen. Mohammed: „Die Durchschnittslöhne in der Elektroindustrie liegen umgerechnet bei 200 Euro im Monat. Bei LEONI in Ez-Zahra können sie schon einmal bis zu 280 Euro betragen. In Sousse sind es im Schnitt 250 Euro. Das macht einen Unterschied, aber es spielen auch grundsätzliche Erwägungen eine Rolle. Das Unternehmen will die Produktionsstandorte dort konzentrieren, wo die Gewerkschaft am schwächsten ist. Und das ist Sousse. Wir befürchten deshalb auch, dass nach der Schließung von Ez-Zahra die beiden Werke in Mateur dicht gemacht werden. Doch das lassen wir uns nicht gefallen.“
Mohammed erklärt uns, dass LEONI die Belegschaft insgesamt in eine unsichere Lage versetzen wolle. Erst werde befristet eingestellt, und dann die Verträge nicht mehr verlängert. Allein in Ez-Zahra wäre so ohne großen Konflikt nach und nach die Belegschaft um die Hälfte reduziert worden.
Doch die Arbeiter hätten gemerkt, was los sei: „Im September 2011 haben sie begonnen, Teile des Maschinenparks nach Sousse zu transferieren. Wir haben uns gefragt: ‚Warum?‘ Sie haben uns beruhigt und versprochen, alle Stellen in Ez-Zahra würden erhalten bleiben. Dann hieß es plötzlich, 200 Stellen müssten gestrichen werden. Später kam die Ankündigung, der Kunde FIAT würde entscheiden, wo die Zuliefererstandorte stehen sollten. Und dann sollten plötzlich alle nach Sousse gehen. Aber das ist nicht so einfach, wie sich die Herren da oben das vorstellen. Die Beschäftigten haben hier Familien. Die kann man nicht einfach so verpflanzen. Und schon gar nicht bei dem Gehalt!“
Wir fragen nach der Stärke der Gewerkschaft. Mohammed sagt: „Im Bezirk Ben Arous haben wir 400 Betriebsgruppen mit 50.000 Mitgliedern. 25 % der gesamten tunesischen Elektroindustrie ist hier konzentriert. Ursprünglich wollten wir am 29. August einen Solidaritätsstreik der gesamten Branche für die Kollegen bei LEONI-Ez-Zahra organisieren. Daraufhin kam die Ankündigung, die Schließung des Werks würde auf den 18. September verschoben – da hat sich unsere Streikplanung ebenfalls verschoben.“
Knackpunkt sei, dass in Sousse die Belegschaft durch eine unternehmerfreundliche „gelbe“ Gewerkschaft vertreten werde. Die UGTT sieht sich nach Auskunft von Mohammed nicht in der Lage, dort Solidarität zu organisieren. Aber genau das sei nötig, um den Kolleginnen und Kollegen in Ez-Zahra, wo die Kampfbereitschaft bemerkenswert sei, zum Durchbruch zu verhelfen.
„Die Belegschaft befindet sich seit vier Wochen im Ausstand“, so Mohammed. „Das Unternehmen habe noch den Lohn für August ausgezahlt, nun werde es mit dem Beginn des neuen Schuljahres für viele kritisch, da sie Schulbücher und Ausstattung für ihre Kinder anschaffen müssten.“
Wir fragen, was die Beschäftigten erwarte, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlören. Er erklärt uns, Arbeitslosengeld gebe es nicht, stattdessen eine Art Sozialhilfe. Diese entspräche 100 Euro im Monat und „wurde von der UGTT in der Ära des ersten Präsidenten Bourguiba durchgesetzt.“
Schließlich fragen wir ihn nach seiner Einschätzung der Revolution, die Ben Ali gestürzt hat. Er sagt: „Die Revolution hat angefangen. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel.
Es ist richtig – man hat keine Angst mehr auf der Straße. Aber auf der sozialen Ebene hat sich gar nichts geändert. In den Betrieben ist das Management nicht ausgetauscht worden.“
Mohammed holt ein dickes Buch hervor. Es ein sehr umfangreiches Dossier über die negativen Auswirkungen des EU-Assoziierungsabkommens auf die tunesischen ArbeitnehmerInnen, dass die UGTT herausgegeben hat. Um die Mitglieder darüber zu informieren und Bewusstsein für die neoliberale Politik der EU zu schaffen, werden Seminare organisiert, in denen die Bedingungen für die Abkommen erklärt werden: die Reduzierung von Subventionen, die Durchsetzung niedriger Löhne, Leiharbeit, Outsourcing etc. Es gehe einzig und allein darum, ein „gutes Investitionsklima“ für ausländische Konzerne zu schaffen – Leidtragende seien die einheimischen ArbeitnehmerInnen.
Da Artikel 2 der EU-Assoziierungsabkommen fordert von allen Vertragspartnern die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Grundprinzipien, hier können wir gut ansetzen und Druck auf unsere Regierung ausüben.
Am Ende führt uns Mohammed in der Gewerkschaftszentrale herum. Es ist augenscheinlich, dass die Gewerkschaft über eine kämpferische Tradition verfügt, zugleich aber auch an vielen unterschiedlichen sozialen und betrieblichen Fronten zugleich kämpft. Mohammed betont zunächst die Bildungsarbeit, die die UGTT seit 25 Jahren leistet. Dann entdecken wir in einem Büro Plakate gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters, das in Tunesien immer noch bei 60 Jahren liegt. Auch an den Vorbereitungen für das im kommendem März in Tunesien stattfindende Weltsozialforum ist die UGTT beteiligt.
Mohammed fasst zusammen: „Der Kapitalismus denkt nur an Profit. Die Arbeiter sind für das System nur Kennzahlen. Was Marx gesagt hat, war genau richtig.“ Er hebt die internationale Solidarität hervor: „Die Beziehung zu einer starken politischen Linken ist sehr wichtig. Wir müssen gemeinsam kämpfen.“ Und: „Die Solidarität der Arbeiter kann etwas erreichen. Euer Besuch gehört in diese Kategorie.“
 
Werksbesuch bei den kämpfenden Kolleginnen und Kollegen im LEONI-Werk Ez-Zahra
Gemeinsam mit Mohammed fahren wir schließlich zu den Kolleginnen und Kollegen in das besetzte Werk. Am Eingang werden wir vom Werksschutz aufgehalten. Es kommt zu einem Wortgefecht, während sich viele der Arbeiter nähern. Schließlich schleust uns Mohammed an dem Wachmann vorbei. „Das sind die Überreste des alten Regimes“, kommentiert er. Im Werk hält er eine kurze Ansprache, in der er den Beschäftigten erklärt, wer wir sind. Langsam löst sich die Anspannung und wir werden einzeln von Trauben von Beschäftigten umringt. Sie führen uns in den Betrieb, den sie seit Wochen besetzt halten.
Drei Viertel sind Frauen. Sie führen das Wort genauso selbstverständlich wie die Männer, mit denen sie seit Wochen die gemeinsame Besetzungsaktion durchführen. Der Geist der Solidarität ist überall spürbar.
Der Bildungsstand der meisten ist hoch. Viele sprechen sehr gut Französisch, manche Englisch, Einzelne Deutsch. Immer wieder hören wir, On veut travailler. Nous sommes qualifiés – „Wir wollen arbeiten – wir sind qualifiziert“. Die ArbeiterInnen sind stolz auf ihre Arbeit und beschweren sich, dass Ez-Zahra systematisch von der Entwicklung neuer Projekte abgekoppelt wurde, um das Werk zu de-qualifizieren.
Sie können uns bis ins Detail alle Fragen zum Hintergrund der Auseinandersetzung beantworten und uns eine detaillierte Lageeinschätzung geben. Der Stolz auf die Arbeit, die sie hier verrichten, spiegelt sich auch im äußeren Zustand der Werkshallen wider. Die werden immerhin seit Wochen Tag und Nacht besetzt und erscheinen doch in einem makellosen Zustand.
Gleichzeitig geben viele zu erkennen, dass sie sich in einer verzweifelten Lage befinden. Wir fragen, was sie von dem Angebot des Unternehmens halten, bei Einwilligung in einen Wechsel in die anderen Werke die Kosten für den Umzug und sogar die Miete für ein Jahr zu übernehmen. Die ArbeiterInnen erklären uns, es handele sich dabei um eine Falle. Uns werden die Namen von vier Beschäftigten gegeben, die sich darauf eingelassen und einen Aufhebungsvertrag in Ez-Zahra unterschrieben hätten. Als sie im anderen Werk ankamen, habe es dort plötzlich geheißen, es sei keine Arbeit für sie vorhanden.
Als wir nach den Gründen für die Werksschließung fragen, bestätigen sie die Einschätzung von Mohammed Ali, Ziel sei es, Löhne zu drücken und die Gewerkschaft zu schwächen.
Auf die Frage, ob es Beziehungen zu den Kollegen in Sousse gebe, antworten die ArbeiterInnen: Ja, aber dort hätten die Beschäftigten alle Angst. Es gebe dort zwar eine Gewerkschaft, aber dabei handele es sich um eine syndicat fantôche – eine „Marionettengewerkschaft“.
Zudem äußern viele einen Verdacht: Familienangehörige des Vorstandsvorsitzenden Ruis würden von den Mieteinnahmen am Standort Sousse profitieren.
Überhaupt wird das Thema Korruption stark hervorgehoben. Die Arbeiter geben uns Plakate, die Ruis mit Ben Ali zeigen. Nun habe die Tochter des neuen Premierministers Jebali von der islamischen Partei En-Nahda eine leitende Position bei LEONI am Standort Mateur eingenommen.
Als wir uns verabschieden, werden wir herzlich zum Auto begleitet. Die Kolleginnen und Kollegen beginnen, Beifall zu klatschen. Zwei von ihnen kommen und bringen uns selbstgemachtes Gebäck und Orangensaft zum Abschied. Manche recken die kämpferische Faust zum Gruß.
Nicht so begeistert hat die Unternehmensleitung unseren Besuch aufgenommen. Bereits im Vorfeld rief der Distrikt-Gouverneur beim deutschen Botschafter an, um unseren Besuch zu verhindern. Der Botschafter hatte uns tatsächlich ausdrücklich gewarnt, nach Ez-Zahra zu fahren. Nachdem wir den Kolleginnen und Kollegen unseren Solidaritätsbesuch abgestattet hatten, sah sich die Geschäftsleitung von LEONI-Tunesien veranlasst, die laufenden Verhandlungen mit der UGTT auszusetzen. In der Presse ließ sie verlauten, dass es sich um einen „unverantwortlichen“ Besuch von deutschen Abgeordneten einer „extrem linken Partei“ gehandelt habe.
Die Unternehmensführung lege Wert auf die Feststellung, dass sie „rechtlich vorgehen werde gegen diese ausländischen Parteien und jene, die sie eingeladen haben.“
Abends kommen Mohammed und seine KollegInnen zu uns ins Hotel, um uns die Neuigkeiten mitzuteilen. Sie versichern uns, dass sie unseren Besuch hilfreich fanden. Mohammed sagt, er habe „die Kolleginnen und Kollegen sehr motiviert und ihre Kampfkraft gestärkt. Es ist so wichtig, dass die Tunesier sehen, dass es Leute aus Deutschland gibt, die solidarisch mit ihnen sind.” Schließlich habe die Geschäftsleitung schon früher alle möglichen Anlässe gesucht, um Verhandlungen abzubrechen.
Die UGTT-Kollegen ermuntern uns, am nächsten Tag eine Presseerklärung herauszugeben, mit der sie auch in den Betrieb gehen wollen. In der Pressemitteilung schreiben wir in französischer Sprache: „Die Aktion [der LEONI-Arbeiter] ist berechtigt und beeindruckend. Über die Grenzen hinaus gibt sie allen Arbeitern ein Beispiel, die von Entlassungen bedroht sind – auch in Deutschland.“
Nach unserer Rückkehr erfahren wir, dass die Verhandlungen schließlich doch zu Ende geführt worden sind. Mit einer Entschädigung von 2,4 Monatsgehältern pro Beschäftigungsjahr lag das Ergebnis am Ende dichter an den UGTT-Forderungen als beim Angebot der tunesischen Unternehmensleitung. Ein Kollege schrieb uns per Email: „Gestern haben wir endlich alle unser Geld erhalten. Nun sind wir frei von LEONI … und haben etwas Geld, bis wir einen neuen Arbeitsplatz finden. Gestern gab es eine kleine Feier im Betrieb, um unseren Gewerkschaftern und all jenen zu danken, die uns geholfen haben. Dank auch an euch für eure Hilfe.“
 
20. September: Rachid Ghannouchi (Vorsitzender der Partei der islamischen Wiedergeburt – En-Nahda)
Unser nächster Termin führt uns zum Deutschen Botschafter in Tunesien, Jens Plötner. Mit ihm zusammen besuchen wir die Parteizentrale der regierenden En-Nahda; dort empfängt uns die historische Führungsfigur Rachid Ghannouchi, der zugleich Vorsitzender der En-Nahda ist.
Ghannouchi hat eine bewegte Geschichte. Er verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und im Exil. Uns fällt auf, dass er viel offener die Probleme des Landes anspricht als die Vertreter der Muslimbruderschaft in Kairo. Das betrifft sowohl die bisher enttäuschten Hoffnungen der Revolutionäre, die nicht nur für mehr Freiheit, sondern vor allem für soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen  sind. Auch kritisiert er deutlich den Polizeiapparat, der immer noch vom alten Regime durchsetzt sei. Die Polizei habe sich am Freitag zuvor sehr passiv verhalten, als es zu dem Angriff von Salafisten auf die US-Botschaft gekommen ist. Er sagt: „Die alten Leute, die die Stütze des Regimes darstellten, sind immer noch in den Institutionen präsent.“
„Doch“, fährt Ghannouchi in seinem pastoralen Stil fort, „nun genießt unser Volk volle Freiheit. Es gibt keine politischen Gefangenen mehr. Alle Parteien genießen volle Freiheiten, ebenso die Presse.“
Es gehe nun um die Erarbeitung einer neuen Verfassung. Dieses Thema, so konnten wir im Vorfeld der Presse entnehmen, hat in Tunesien schon für reichlich Unruhe gesorgt. Ursprünglich sollte die Konstituierende Versammlung am 23. Oktober 2011
für nur ein Jahr gewählt werden. Nun sagt Ghannouchi: „Im März [2013] soll der Entwurf fertig sein. Dann könnten Wahlen stattfinden. Das wird die Übergangsphase beenden.“
Ghannouchi fährt fort: „Im Moment ist die Frage: Wie kann man Harmonie und Ordnung miteinander verbinden? Die Revolution ist wie ein Erdbeben. Wir haben Schwierigkeiten, die Stabilität und Ordnung zu gewährleisten. Jeden Tag demonstrieren junge Leute und fragen nach Arbeit. Aber wir haben große ökonomische Probleme.“ Ghannouchi unterstreicht: „der Tourismus funktioniert. Jedes Jahr kommen mehr als 400.000 Gäste aus Deutschland. Die meisten Hotels sind gut belegt.“
Auch die Landwirtschaft funktioniere gut, mit einer Einschränkung: es gebe kein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Absolventen fänden keinen Arbeitsplatz. Ghannouchi kommentiert: „Wir müssen die jungen Leute ausbilden – dabei können uns Deutschland und die USA helfen.“
Wir fragen nach dem Verhältnis zum radikalen Salafismus. In den Tagen unseres Besuches scheint Ghannouchi als eigentliche Führungsfigur der En-Nahda einen Schwenk zu vollziehen – auch unter dem Erwartungsdruck aus dem Westen – ein entschlosseneres Vorgehen der Polizei zu befürworten. Er nimmt die Gefahr in Kauf, dass das die Leute des Ben-Ali-Regimes wieder  stärken  könnte.
Ghannouchi erklärt: „Der radikale Salafismus basiert auf einem falschen Verständnis des Islam. Er ist auch mit sozialen Problemen verbunden. Der Salafismus ist überall dort stark, wo die Armut herrscht. Er ist Ausdruck der Unterentwicklung bestimmter Regionen. Und er ist eine Folge des Ben-Ali-Regimes, insofern er eine Reaktion des Radikalsäkularismus darstellt, der uns von oben aufgezwungen wurde. 20 Jahre lang gab es keine muslimischen Schulen. So entstand ein Vakuum, das von Predigern, die durch die Golfstaaten unterstützt wurden, gefüllt werden konnte. En-Nahda ist demgegenüber eine gemäßigte islamische Bewegung.“
Er betont: „Tunesier sind keine Extremisten. Manche Frauen tragen den Niqab [Vollverschleierung], weil sie sich nicht überzeugen lassen. Aber im Grunde ist das Niqab-Tragen gegen die Natur der tunesischen Frau.“
Wir fragen, ob es weiterhin Misshandlungen und Folter durch die Polizei gebe. Ghannouchi antwortet: „Die Polizei glaubt, sie könne so weiter machen wie unter Ben Ali. Man muss sie ausbilden. Ja, die Folter existiert, aber es handelt sich um Einzelfälle.“
Wir kommen auf einen Widerspruch zu sprechen, der uns anhand des Beispiels LEONI beschäftigt. Ausländische Direktinvestitionen werden als Weg gesehen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Doch die Firmen kommen nur ins Land, wenn sie niedrige Löhne und eine möglichst rechtlose Belegschaft vorfinden. Wie positioniert sich En-Nahda zu diesem Problem? Ghannouchi bleibt so einsilbig wie zuvor die Muslimbrüder, die wir in Kairo zu demselben Widerspruch befragt hatten. Ghannouchi sagt: „Ausländische Direktinvestitionen sind gut. Die einzige Lösung ist der Dialog zum Ausgleich der unterschiedlichen Interessen.“
Dann weicht er aus: „Doch natürlich gibt es noch Geschäftsleute, die mit dem Ben-Ali-Regime verbunden waren. Insgesamt waren es 450 Familien, die das Land beherrschten. Wir müssen uns daran machen, diese dicken Akten zu öffnen.
Denn die 450 Familien haben 50 % des Bruttoinlandsprodukts kontrolliert. Wir sagen, man muss diese 450 Familien stärker besteuern. Sie besitzen mehr, als der Staatshaushalt im Jahr umfasst.“
 
20. September: Prof. Jalloul Azzouna, Mitbegründer der Volkspartei für die Freiheit und den Fortschritt (PUP)
Zurück im Hotel treffen wir Prof. Jalloul Azzouna, der auf eine lange persönliche Geschichte des politischen Aktivismus zurückblicken kann. 1973 sei er an der Gründung der Bewegung für Volkseinheit (MUP) beteiligt gewesen, die sich an der Politik Salvador Allendes in Chile orientierte. In Tunesien habe die Organisation,
die sich 1980 in „Partei für Volkeinheit“ PUP umbenannte, nur im Untergrund wirken können. Die Frage, ob man sich unter den Bedingungen der Herrschaft Bourguibas, dem ersten tunesischen Präsidenten, um eine Legalisierung bemühen solle, habe zur Spaltung der Partei geführt. Azzouna gehörte jenem Flügel an, der 1981 an den Wahlen teilnahm – die gefälscht worden seien. Im Jahr 1983 sei die PUP legalisiert worden – ohne das sich die Verhältnisse grundlegend verbessert hätten, so Azzouna.
Er nennt die wichtigsten Stationen: 1984 folgte eine Hungerrevolte im Land, 1985 kam es zum großen Konflikt zwischen UGTT und dem Regime. Als Ben Ali 1987 den Präsidenten Bourguiba wegputschte, hätten viele auf mehr Demokratie gehofft.
Doch diese Hoffnungen seien rasch enttäuscht worden. „1989 hat sich die Situation zugespitzt,“ so Azzouna. „Ich war mittlerweile Generalsekretär der PUP. Als einzige Parteien haben sich die Kommunistische Arbeiterpartei PCOT und die PUP gegen Ben Alis Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen ausgesprochen. Die Geheimdienste fingen an, Terror auszuüben. Mir wurde ein Prozess angehängt. Ich ging für ein Jahr in den Knast. Meine Verteidigerin, die Ehefrau des PCOT-Vorsitzenden Hamma Hammami, wurde ebenfalls eingesperrt.“
In den 90er Jahren gelangte Azzouna über die Vereinigung der freien Journalisten zu den Kampagnen für Menschenrechte. Was seine ausführlichen Darlegungen klarmachen: Die Ben-Ali-Diktatur konnte nach außen hin den Eindruck einer Friedhofsruhe vermitteln – aber unter der Oberfläche war der Widerstand niemals ganz erloschen. Azzouna erzählt von illegalen Treffen und geheim hergestellten Publikationen. 2007 schließlich traten acht politische Anwälte in den Hungerstreik – im Kampf für ein Minimum an Menschenrechten. Es wurde ein Unterstützungskomitee aus 25 Parteien und Gruppierungen gebildet. „Ständig war die Polizei dabei, die Veranstaltungen aufzulösen,“ erinnert sich Azzouna, „obwohl diese in Privatwohnungen stattfanden.“ Um wie viele Personen handelte es sich, wollen wir wissen. Azzouna schätzt rückblickend: „20 bis 25.“
Die Aktivitäten im Untergrund seien nicht ohne Bedeutung gewesen, nach dem es am 14. Januar 2011 zum Sturz von Ben Ali gekommen ist. Die gebildeten Verbindungen seien das Rückgrat der fünf Tage nach dem Umsturz gebildeten „Front des 14. Januar“, an der Azzouna und die PUP beteiligt waren, gewesen. Sie habe nur ein Ziel gehabt: „Die Umsetzung der Ziele der Revolution.“ Sie habe Druck auf einzelne Personen ausgeübt, wie Ben Jaafar – den heutigen Parlamentspräsidenten aus der sozialdemokratischen Blockbewegung Et-Takatol, aus, – sich nicht an der Übergangsregierung zu beteiligen. Diese Übergangsregierung sei von einem Ministerpräsidenten aus Ben-Ali-Zeiten geführt worden und darum die Fortsetzung des alten Regimes ohne Präsident. Auch drei UGTT-Vertreter hätten sich dem Druck beugen und ihre anfängliche Zustimmung zur Beteiligung an der Regierung Mohammed Ghannouchi (nicht zu verwechseln mit dem En-Nahda-Vorsitzenden und damaligen Oppositionellen Rachid Ghannouchi)zurückziehen müssen.
Was ist aus der Front geworden? Azzouna antwortet: „Auf Mohammed Ghannouchi folgte eine weitere Übergangsregierung unter Ben Achour, an der sich schließlich einige Teile der Front beteiligten. Damit war die Front am Ende. Das warf den Schatten der Wahlen vom 23. Oktober 2011 voraus. Da traten alle Kräfte einzeln an. Die extreme Zersplitterung hat ein katastrophales Ergebnis hervorgebracht und die Stärke der islamischen Ennahda begründet.“
Azzouna guckt sogleich in die Zukunft und kündigt für den 26. September die Gründung der so genannten „Volksfront“ an, an der sich neben der PUP auch die ehemalige PCOT und etwa zehn weitere Formationen zu einem Wahlbündnis vereinigen wollten. Dieses Bündnis stehe klar links neben den von den Postkommunisten um Et-Tajdid („Erneuerung“) und bürgerlichen Kräften gebildeten Mitte-Links-Block „Nidaa Tounés“, so Azzouna.
„Die Ziele der Volksfront lassen sich in drei Punkten zusammenfassen“, so Azzouna. „Erstens einen Bruch mit der Sozialpolitik des alten Regimes und der En-Nahda, die beide neoliberal sind. Zweitens das Eintreten für ein semi-präsidiales System, das die Macht des Staatschefs beschränkt. Drittens spielt für uns die Kultur und die Ökologie eine hervorgehobene Rolle.“
 
21. September: Treffen mit führenden Mitgliedern der Arbeiterpartei Tunesiens (POT)
Bevor wir am 21. September – einem Freitag – unseren ersten Termin wahrnehmen, müssen wir uns die Augen reiben. Vor unserem Hotel, das sich am zentralen Boulevard der Hauptstadt befindet und zwischen französischer Botschaft und Innenministerium liegt, ist ein erhebliches „Sicherheitsaufgebot“ aufgefahren. Hubschrauber, Panzerspähwagen, Stacheldraht, Massen an Uniformierten und vermummte Kräfte, die die Avenue Bourguiba patroullieren. Die französische Satirezeitschrift Charlie-Hebdo hatte erklärt, punktgenau zum Freitag weitere provozierende Anti-Islam-Zeichnungen zu veröffentlichen.
En-Nahda sieht sich offenbar gezwungen, jeden weiteren Protest vor der französischen Botschaft zu unterbinden. Wir haben in den Straßen noch keinen einzigen Langbärtigen sehen können, aber Regierung und Medien schüren die Angst vor den „Salafisten“.
Im Ergebnis wirkt die Innenstadt wie ein kleines Heerlager.
Ungeachtet dieses, alles andere als beruhigenden „Sicherheitsaufgebots“, fahren wir zur neuen, aber gleichzeitig bescheidenen Parteizentrale der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, PCOT. Mittlerweise hat sie das „C“ für kommunistisch
aus dem Namen gestrichen. Die PCOT heißt nur noch POT, was für „Tunesische Arbeiterpartei“ steht. Uns wird erklärt, islamische Kräfte hätten „kommunistisch“ all zu leicht mit „ungläubig“ übersetzt und so Ängste geschürt. Dies sei zum Teil die Erklärung für das ernüchternde Abschneiden bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2011, wo die PCOT nur drei Mandate erringen konnte.
Die POT hat mit Hamma Hammami einen legendären und über die Parteigrenzen hinaus anerkannten Vorsitzenden. Der kann zu unserem Treffen aufgrund eines zeitgleich stattfindenden Fernsehinterviews leider erst später dazu kommen.
Wir beginnen die Unterhaltung mit dem Vorstandsmitglied Jilani Hammami
und dem Jugendsekretär Lajimi Salah.
Hammami führt aus: „Die Ereignisse entwickeln sich wie in jedem revolutionären Prozess sehr schnell. Die sozialdemokratische Et-Takattol („Der Block“) mit dem Parlamentspräsidenten Ben Jaafar, die Kongresspartei des säkularen Präsidenten Moncef Marzouki und die islamische Partei der Wiedergeburt En-Nahda bilden die sogenannte Troika. Tatsächlich wird dieses Dreigespann klar von der En-Nahda dominiert, die als einzige Partei reale Kräfte an der Basis der Gesellschaft repräsentiert. Nach den Wahlen vom 23. Oktober 2011 hat das Volk begriffen, dass die Versprechen auf mehr soziale Sicherheit und der Reformierung der Kräfte wie Staatssicherheit und Polizei nicht umgesetzt werden.“
Hammami fügt an, es sei gut, dass sich nun der Direktor einer Fernsehstation wegen Korruption im Gefängnis befindet. Doch er kritisiert: „Nun ist En-Nahda dabei, sich selbst die Kontrolle zu sichern, so zum Beispiel über die öffentlichen Fernsehsender. Gestern wurde angekündigt, das erste Fernsehprogramm solle komplett überarbeitet werden.“
Ein anderes Beispiel sei die Justiz. Die POT fordere eine unabhängige Kommission zur Überwachung einer Justizreform, die den Einfluss der alten Kräfte beseitigen solle. Doch stattdessen versuche das von En-Nahda kontrollierte Justizministerium, den Prozess in der Hand zu behalten.
Hammami befürchtet, dass die Eigeninteressen der En-Nahda der notwendigen Befreiung von den alten Seilschaften im Wege stünden: „Derzeit erwarten wir die Verhaftung einiger Ben-Ali-Geschäftsleute, die der Korruption verdächtigt werden.
Doch es gibt eine große Unsicherheit. Viele vermuten, dass die jetzige Regierung selbst bis zum Hals in der Korruption steckt. Vor drei Wochen wurde ein Berater des Außenministeriums in Paris festgenommen. Er kam aus einem der und hatte Koffer voll mit Dollars bei sich.
Wir fragen, welche Minister umstritten sind. Hammami antwortet: „Der Justiz-, Innen- und Außenminister. Der Innenminister ist der Generalsekretär der En-Nahda. Er will sich als Staatsmann darstellen, aber er ist durch und durch Parteifunktionär. Der will das Rad zurückdrehen. Selbst die Folter ist eine Praxis, die wieder auftaucht.“
Hammami nennt vier oder fünf Fälle, in denen Genossen der POT von Folter betroffen waren. Es gebe aber auch zahlreiche Fälle darüber hinaus: „Es sind die gleichen Täter wie unter Ben Ali. Und sie arbeiten immer noch in einem rechtsfreien Raum.“
Was sich geändert hat, so Hammami, sei natürlich die Organisationsfreiheit. Wobei man nicht wisse, wohin die Situation sich entwickle. Es sei klar, dass Telefone abgehört und Mitarbeiter des Staatsschutzes in zivil auf den Veranstaltungen auftauchten.
Wir erkundigen uns nach der Stärke der POT. Offenbar hatte die Partei im Herbst 2011, zur Zeit der Parlamentswahlen, eine schwere Krise durchlebt. Der Jugendsekretär Lajimi sagt: „als Partei der Linken waren wir bereits vor dem Sturz Ben Alis sehr aktiv, allerdings im Untergrund. Ein Beispiel sind die Proteste in den Phosphatminen von Gafsa, wo es 2008 zu einem Aufstand kam. Doch obgleich wir eine große Rolle im Umsturz gespielt haben, war die erste Zeit nach dem Ausbruch der Revolution für die damalige PCOT eher schwierig. Reaktionäre und salafistische Kräfte haben alles auf den Begriff „Kommunismus“ reduziert. Diese Stigmatisierung hat uns gebremst.“
Nun sei die Partei wieder im Aufwind: „ Wir haben eine Kampagne unter dem Titel ‚Was hat sich geändert?‘ gestartet. In 500.000 Flugblättern haben wir im ganzen Land Punkt für Punkt aufgeführt: Das sind die Ressourcen, das ist zu tun, wenn die Regierung wirklich die Arbeitslosigkeit verringern will, wenn sie die Inflationsrate senken will etc., etc. Es gibt nun in den Massenmedien eine Diskussion um eben diese Frage:
Was hat sich geändert?“
Auch arbeite die Partei zu konkreten Problemen in den Regionen, wie der unzuverlässigen Wasserversorgung auf dem Land. In der Provinz würden zudem Stromunterbrechungen zu erheblichen Schäden führen. Die Partei sei heute in allen industriellen Zentren wie dem Großraum Tunis, Sfax oder Gafsa stark vertreten. Das Umfeld sei nicht zu beziffern, aber die POT sei stark in der UGTT vertreten. Mit einem Augenzwinkern fragt uns Hammami: „Habt ihr uns in Ben Arous bei LEONI bemerkt?“
 
21. September: Treffen mit Fathi Chamki von RAID (attac)
Wir lernen Fathi Chamki als einen umtriebigen Mann kennen, der mit großer Begeisterung spricht. Seine Kritik an der EU ist beißend. Die Europäische Kommission sei doppelzüngig, sagt er. Sie rede von Demokratie, aber wolle eine neue Diktatur aufbauen. Die neoliberale Diktatur. Die EU wolle ihr Dogma des Freihandels  auf die Landwirtschaft und den Dienstleistungsbereich ausweiten. Es gehe darum, Tunesien in den globalen Markt einzubinden. Hilfsgelder würden an die Durchsetzung dieses Freihandels verbunden, wie er sich auch in dem Freihandelsabkommen zwischen EU und Tunesien manifestiert
Die elf wichtigsten Parteien hätten im Juli 2011 vor der Wahl einen Vertrag unterzeichnet, in dem sie sich verpflichteten, das ökonomische System nicht anzugreifen. Fathi Chamki meint dazu bissig: „Sie wollen uns keine wirkliche Entkolonialisierung zugestehen.“
RAID sei bisher sehr schwach und konzentriere sich auf zwei Projekte. Eines sei die Kampagne gegen die Rückzahlung der Schulden aus der Zeit von Ben Ali, die er „illegitime Schulden“ nennt. Innerhalb von 18 Monaten hätten sie eine entsprechende Petition verbreitet, die inzwischen von 120 Abgeordneten unterstützt werde.
In der Nationalversammlung werde von 24 Abgeordneten aller Parteien – außer von En-Nahda – ein Schuldenaudit gefordert. Chamki erläutert, ein Schuldenaudit bezeichne ein Verfahren zur Offenlegung der Verbindlichkeiten eines Staates und die Prüfung seiner Legitimität.
Das zweite Projekt sei die Initiative für eine politische Alternative. RAID wirke deshalb an der Bildung der „Volksfront“ mit, von der uns schon Azzouna und die Genossen der POT erzählt haben. Chamki kritisiert die neue Formation Nidaa Tounés, den „Appell Tunesiens“, als eine bürgerliche Koalition aus alten Ben Ali-Getreuen und Säkularen.
Chamki äußert darüber hinaus Kritik an der internationalen Bewegung, welche die Region schon immer mit Misstrauen beäugt habe. Er berichtet von den Vorbereitungen für das Weltsozialforum in Tunis im Frühjahr 2013. Die Vorbereitung laufe einerseits seitens der Trägerorganisationen etwas schleppend, andererseits hätten an dem letzten Vorbereitungstreffen 1800 überwiegend junge Menschen teilgenommen.
Viele seien aus dem Hinterland gekommen und hätten kleine Gruppen aus verschiedenen Regionen vertreten.
Es käme jetzt darauf an, diese Aktiven einzubinden. Die Bewegung in Tunesien sei sehr spontan und ohne klare politische Ausrichtung. Die „Volksfront“ sei für ihn deshalb mehr als ein Wahlbündnis. Er erhoffe sich von ihr, dass sie zu einer Kraft wird, die die Errungenschaften der Revolution  bewahre und weiter entwickele. Fathi Chamki fordert die internationalen sozialen Bewegungen auf, sich am WSF zu beteiligen.
Mit Blick auf das „Sicherheitsaufgebot“ vor den Türen des Hotels sagt er:
„Die Salafisten und der Terrorismus, das ist nur ein Vorwand, um den Polizeistaat wieder durchzusetzen. Es ist gefährlich, dass manche Linke das nicht erkennen können.“
 
21. September: Habib Kazdaghli, Habib Mellakh (Universität Manouba)
Am Nachmittag fahren wir vor die Tore der Stadt, um mit den Professoren Habib Kazdaghli und Habib Mellakh an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Manouba zusammenzukommen. Als wir ankommen, sind wir überrascht. Der ganze moderne Campus liegt menschenleer vor uns. Das hängt nicht mit dem Freitagsgebet oder dem nahenden Wochenende zusammen. Habib Kazdaghli, Dekan der Fakultät, erklärt uns, es sei die Regel geworden, dass die Studierenden einfach nicht in der Monatsmitte das Studium antreten würden. Der Grund sei ökonomischer Natur: Sie wollten nicht für einen halben Monat Studium eine komplette Monatsmiete im teuren Tunis verausgaben! „Offiziell“, so Kazdaghli, „haben die Seminare bereits am 12. September begonnen. Aber bis heute, neun Tage nach Semesterstart, sind die Studenten noch nicht aufgetaucht.“
Die Zahlen unterstrichen die ökonomische Problematik. Kazdaghli: „An der Universität sind 25.000 Studierende eingeschrieben, an der geisteswissenschaftlichen Fakultät studieren 8.000. Das Problem ist, dass von den 600 neuen Absolventen dieses Jahres noch keiner eine Arbeit gefunden hat.“ Er fügt hinzu, „der Frauenanteil ist hoch – 500 von 600 Absolventen sind weiblich. Doch viele brechen das Studium aufgrund der Perspektivlosigkeit vor den Examina ab. Manche werden fliegende Händler. Anders als in Europa, kann man hier bei uns nicht während des Studiums jobben. Am Anfang und am Ende eines Semesters nehmen viele Studierende eine Auszeit. So sparen sie Mietkosten und haben die Chance, Geld zu verdienen. Dadurch verkürzt sich ein Semester von vierzehn auf acht bis neun Wochen.“
Manouba wurde 1980 nach dem Vorbild des französischen Nanterre vor den Toren der Hauptstadt auf einer grünen Wiese errichtet. Die Universität war ein Hort des Widerstands gegen Präsident Bourguiba und dann Ben Ali. Im letzten Jahr hat die Universität Schlagzeilen gemacht, weil hier einige Salafisten aktiv geworden sind. Die Isolation der salafistischen Aktivisten wird schnell klar. Kazdaghli kann sie einzeln beschrieben: „Die beiden, die in Manouba das Wort führen, waren auch die Anführer des Sturms auf die US-Botschaft vor einer Woche am 14. September. Der eine ist al-Qaeda-nah und wurde am Samstag verhaftet. Der andere heißt Boujar.“
Kazdaghli beschreibt, wie der Konflikt sich an der Fakultät hochgeschaukelt hat: „Letzten Dezember konnte ich für einen Monat nicht mehr in mein Büro, weil es eine Besetzungsaktion der Salafisten gegeben hat. Sie haben das Recht auf Tragen des Niqab zum Vorwand genommen. Ich habe oft mit ihnen geredet. Sie sind der Meinung, die Funktion des Dekans sollte ein Imam übernehmen.“
Wie viele sind es, wollen wir wissen. „Wenige“, sagt Kazdaghli. Als die Salafisten vor meiner Bürotür ein kollektives Freitagsgebet durchführen wollten, kamen keine zehn Leute.“ Auch die Wahlen zum Studierendenparlament hätten den Salafisten keine Zuwächse gebracht, da  die Mobilisierung der Gegenkräfte  überdurchschnittlich hoch gewesen sei.
Aus der Isolation heraus versuchten die Salafisten zu provozieren und hätten Kazdaghli nach Beendung der Besetzungsaktion in seinem Büro aufgesucht. Aus heiterem Himmel habe er im Juli Post bekommen, so Kazdaghli, eine Anzeige wegen leichter Körperverletzung. Im laufenden Verfahren sei die Anklage auf schwere Körperverletzung verändert worden. Ein klares Indiz für die beiden Professoren, dass der ganze Konflikt zum Vorwand genommen werden könnte, um auf gerichtlichem Wege den Dekan aus dem Amt zu drängen und auf die Zusammensetzung des Lehrkörpers Einfluss zu nehmen.
Professor Mellakh erklärt: „82 Richter sind entlassen worden und nun wurde bekannt, dass noch 1800 weitere auf der schwarzen Liste des Justizministers sind. Da hat nun jeder Angst um seinen Job und wird plötzlich ganz zahm gegenüber der Regierung und möglichen Vorgaben.“ Wir fragen nach: Ist die Beseitigung der alten Seilschaften – Tat‘hir – nicht notwendig? „Ja klar“, so die Antwort von Mellakh, aber dieser Prozess werde derzeit von En-Nahda genutzt, um die eigenen Positionen auszubauen.
Sie würden die Unabhängigkeit der Justiz nicht anerkennen.“
Uns wird klar: Im Prozess der Revolution sind alle Positionen umkämpfte Stellungen unterschiedlicher sozialer Kräfte. Gegen den Versuch, den Dekan Kazdaghli mit den Mitteln der Justiz aus dem Amt zu drängen, hat sich eine breite Solidaritätsfront gebildet. Nachdem wir aus Tunesien zurückgekehrt sind erfahren wir, dass zum ersten Prozesstag über 1000 Menschen ihre Solidarität mit Kazdaghli vor dem Gerichtsgebäude demonstriert haben. Der Ausgang des Prozesses ist noch offen, am 26.12. wird das Urteil verkündet.
 
21. September: Ahmed Brahim, Abdelaziz Messaoudi, Fauzi Charfi, Nadia Chaabane (al-Masar ad-dimokratij wa’l-idschtimaij)
Unser letztes Treffen führt uns in die Parteizentrale des „Fortschrittlich-modernistischen Pols“, der sich seit neuestem „Der demokratische und soziale Weg“ nennt, kurz „Der Weg“ oder al-Masar. Dahinter verbirgt sich niemand anderes als die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Kommunistischen Partei, die unter dem Logo Et-Tajdid („Die Erneuerung“) lange Zeit unter Ben Ali eine von zwei „anerkannten“, also legalen Oppositionsparteien bildete. Wobei die Legalität eine ziemlich relative war. Schnell wird aus dem Gespräch mit dem Vorsitzenden Ahmed Brahim und seinen Genossen klar, dass unter Ben Ali auch für die Kommunisten keine wirklich freie Tätigkeit möglich war.
Brahim erklärt: „Wir sind eine linke Partei und haben den Wahlkampf im Oktober 2011 nach der Revolution als „Demokratischer Pol“ geführt. Wie viele andere haben wir nur wenige Mandate erringen können. Doch mit der Republikanischen Partei und anderen bilden wir im Parlament nun eine Fraktion von 32 Abgeordneten.“
Wir wundern uns, dass die Ex-Kommunisten sich heute um die Bildung eines Bündnisses mit der neuen Formation des Nidaa Tounés, dem „Appell Tunesiens“ bemühen, einer im Wesentlichen bürgerlichen Formation. Brahim erläutert: „Uns geht es um die Vereinigung aller demokratischen Kräfte bis zur nächsten Wahl. Es geht zunächst um wahltaktische Erwägungen, um die Stimmen nicht erneut zu splitten. Eigentlich läuft am 23. Oktober 2012 die Einjahresfrist ab und es müsste
bald zu Neuwahlen kommen.“
„Der Weg“ trete für die Schaffung einer neutralen Instanz ein, die über den Wahlkalender und dergleichen entscheiden solle. Aber es gebe Zweifel, ob En-Nahda Interesse daran habe. Im Moment sei die Regierungspartei damit beschäftigt, überall ihre Leute unterzubringen, insbesondere in die Positionen der Präfekten und Unterpräfekten, die das Innenministerium in den Regionen vertreten.
Brahim kommt auf die Geschichte zu sprechen: „1963, nur einige Jahre nach der Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht, wurde die Kommunistische Partei verboten. Das ging 18 Jahre so weiter, dann wurde 1981 ein Legalisierungsantrag unter dem Logo Et-Tajdid gestellt und bewilligt. Wir waren plötzlich legal, aber ständig saß uns die Polizei im Nacken. Seit 1994 trat ein Streit in der Partei auf, wie wir uns gegenüber Ben Ali verhalten sollten. Denn der Präsident bestimmte nun alles, auch wer Abgeordneter werden sollte.“ Brahim erklärt, dass er 2009 als Präsidentschaftskandidat gegen Ben Ali angetreten, aber sein Wahlmanifest zu einem illegalen Dokument erklärt worden sei. „Wir waren legal, in Wirklichkeit aber eben nicht anerkannt.“
Wir fragen nach, warum Brahim dann nach dem 14. Januar in die Übergangsregierung von Mohammed Ghannouchi, dem Premierminister des gestürzten Diktators, eingetreten sei. Wir bemerken, dass dies ein heikles Thema ist. Nadia Chaabane, die ebenfalls im Parlament sitzt, bringt ein paar spitze Bemerkungen gegen den Absentismus der radikalen Linken. Auch die Volksfront, in die unsere Gesprächspartner Azzouna, Chamki und die Genossen von der POT soviele Hoffnungen legten, qualifiziert Chaabane als linksradikal und einflusslos ab. Sie seien ein „zusammengewürfeltes Spektrum ohne klare soziale Linie“.
Die soziale Linie der Postkommunisten ist uns hingegen nicht ganz klar. Auf der einen Seite betont Brahim, die großen Vermögen müssten besteuert werden. Auf der anderen Seite sei es auch Aufgabe der Linken, dafür zu sorgen, dass die Investoren nicht das Vertrauen verlören. Sonst würden sie ihre Fabriken schließen. IWF und Weltbank wären nun mal da, man müsse sich von den alten ideologischen Slogans trennen.
Der ebenfalls am Tisch sitzende wirtschaftspolitische Experte von al-Masar erläutert anhand der Stromerzeugung, dass es nicht darum ginge, zu Hundertprozent alles in Staatshand zu monopolisieren. Es reiche aus, wenn beispielsweise ein strategischer Bereich wie das Stromnetz in öffentlicher Hand bleibe.
Brahim ergänzt: „Das Problem ist die Abhängigkeit der Nation vom IWF und den ausländischen Direktinvestitionen. Das sind Fakten, an denen wir nicht vorbei kommen. Wir sind ein armes Land. Deshalb arbeiten wir mit der Mitte zusammen. Die bürgerlichen Freiheiten und der Kampf gegen die Islamisten sind für uns zentral.
Das heißt natürlich nicht, dass wir dieselben Positionen wie zum Beispiel Nidaa Tounés vertreten, im Gegenteil. Wir sind die Stimme der Vernunft und sehen unsere Aufgabe darin, dass es nicht zu neoliberalen Auswüchsen kommt. Wenn wir wieder stark sind, können wir auch IWF und Weltbank widerstehen.“
Die Gespräche in Tunis haben uns gezeigt, wie lebendig und breit gefächert auch hier die Linke sich aufstellt. Wie in Ägypten befinden sich die Kräfte in einem tiefgreifenden Umgruppierungsprozess. Wir haben niemanden getroffen, der die Bedeutung des Umsturzes des Diktatoren geschmälert hätte. Alle bezogen sich positiv auf die Revolution, die nach wie vor nicht abgeschlossen erscheint. Denn sowohl die sozialen,
als auch viele der politischen Probleme, die der Revolution zugrunde lagen,
sind noch nicht gelöst.
Es gibt aber sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Schritte jetzt die richtigen sind. Ist der zentrale Kampf der zwischen Demokratie und Religion, wie Einige meinen, oder geht es darum, die Menschen über die soziale Frage zu organisieren, die so viele in Widerspruch mit der Regierung bringt?
Eine Möglichkeit, die Perspektiven für Bewegungen und die Linke in Tunesien zu diskutieren, wird das Weltsozialforum sein, das im März 2013 in Tunesien stattfinden soll. Im Zentrum werden die sozialen Probleme Nordafrikas, sowie die neoliberalen Strategien von EU, IWF und Weltbank stehen. Internationale Solidarität mit der arabischen Revolution und dem Kampf um die Durchsetzung ihrer Ziele stehen für uns weiter auf der Tagesordnung.
Liste der Gesprächspartnerinnen und -partner
ÄGYPTEN
Peter Senft, Sozialreferent an der Deutschen Botschaft in Kairo
Streikende Lehrer und Metallarbeiter vor dem Parlamentsgebäude in Kairo
Hamdin Sabahi, Präsidentschaftskandidat, vormals Partei Karama („Würde“; nasseristische Partei)
Michael Bock, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kairo
Samir Amin, Publizist und historische Führungsfigur der ägyptischen Linken
Aida Seif ad-Dawla, Psychologin und Geschäftsführerin des El-Nadeem Zentrums für Rehabilation von Folteropfern
Ahmad Salah ad-Din, Michael Elnemais Fawzy, Hand Adel Aly, Shymaa Mesalam: Mitglieder des Netzwerkes „Ärzte ohne Rechte” im Abbasyya Krankenhaus Kairo
Walid el-Haddad, Koordinator für auswärtige Beziehungen der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (politischer Arm der Muslimbruderschaft)
Khaled Ahmed, Abgeordneter der verfassungsgebenden Versammlung der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (politischer Arm der Muslimbruderschaft)
Hanan Elbadawy, Sprecherin der Frauenorganisation Bahiya Ya Masr
Hossam Hamalawy, Journalist und Blogger (arabawy.org)
Ahmed Nour, Revolutionärer Sozialist im Zentrum für sozialistische Studien, Giza
Hisham Fouad, Revolutionärer Sozialist und NGO Awlad al-Ard („Söhne der Erde”, gewerkschaftsnah)
Kamal Abu Aita, Vorsitzender des Dachverbandes der unabhängigen Gewerkschaft EFITU, sowie drei weitere Mitglieder des Exekutivbüros der EFITU
Amr Adly, Ahmed Mossallem: Ökonomen der NGO „Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte“
Mohamed Hazem, Hazem Sherif, Ahmed Hassan: studentische Aktivisten an der German University of Cairo (GUC)
Akram Yussef, Ola Shahba: führende Mitglieder der Partei Sozialistische Volksallianz
Mamduh Habashi, Hassan Saber: führende Mitglieder der Sozialistischen Partei
TUNESIEN
Belgacem Ayari, stellvertretender Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes UGTT
Tahar Berberi; Generalsekretär der Föderation der Metall- und Elektroindustriearbeiter in der UGTT
Salem Ayari und Saida Trabelsi, Nationale Koordination der arbeitslosen Akademiker
Mohammad Ali Boughdiri, Generalsekretär der UGTT im Industriebezirk Ben Arous, sowie weitere lokale Funktionsträger der UGTT
Arbeiterinnen und Arbeiter im besetzten Werk LEONI in Ezzahra
Jens Plötner, deutsche Botschafter in Tunesien
Rached Ghanouchi, Vorsitzender und graue Eminenz der regierende Partei Ennahda
Hamma Hammami, Vorsitzender der tunesischen Arbeiterpartei POT, ehemals PCOT
Lajimi Salah, Jugendsekretär der POT
Jilani Hammami, Vorstandsmitglied der POT
Prof. Jalloul Azzouna, Gründer der Volkspartei für die Freiheit und den Fortschritt PUP
Fathi Chamki, RAID (attac Tunesien)
Habib Kazdaghli, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Manouba bei Tunis
Habib Mellakh, führendes Mitglied der Hochschulgewerkschaft, Universität Manouba bei Tunis
Ahmed Brahim, Minister für Wissenschaft und höhere Bildung in der Regierung Mohammed Ghanouchi und Vorsitzender der Partei „Demokratischer und sozialer Weg“ (al-Masar, ehemals Ettajdid)
Abdelaziz Messaoudi, Fauzi Charfi, Nadia Chaabane: Vorstandsmitglieder von al-Masar.