Ägypten und Tunesien: Die Revolution ist noch nicht abgeschlossen

Der „jungen Welt“ gab ich zur Lage in Ägypten ein langes Interview, das in der Wochenendbeilage vom 27. Oktober erschienen ist. Darin geht es um das Verhältnis zwischen Präsident Mursi und dem Militärrat, dem Ausmaß der letzten Streikwelle und der Entwicklung linker Kräfte im Land. Auf dem Foto sind Ägyptens neue Märtyrer – in Kairo erinnern Graffiti an die bei den Massenprotesten gegen Präsident Mubarak im vergangenen Jahr getöteten Demonstranten.
 


Arabischer Frühling: „Die Revolution hat uns unsere Würde zurückgegeben“

Annette Groth und ich haben in Kairo (15.-19.9.) und Tunis (19.-22.9.) zahlreiche Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der regierenden islamischen Parteien, der linken Opposition, der Gewerkschaften sowie Organisationen der Zivilgesellschaft führen können. Folgendes sind die wichtigsten Ergebnisse:

600 Arbeiterinnen und Arbeiter des deutschen Kabelbaumherstellers LEONI besetzen seit Juli ihr von Schließung bedrohtes Werk in Ezzahra bei Tunis. Bei unserem Besuch im Werk beeindrucken uns ihre Solidarität und der Kampfgeist.

Alle unsere Gesprächspartner haben sich positiv auf die Revolution des Jahres 2011 bezogen, infolgedessen die Diktatoren Ben Ali und Mubarak gestürzt werden konnten. Der im Westen von manchem herbeigeredete „islamische Winter“ – so etwa Scholl-Latour in „Bild“ – ist ein Zerrbild der Realität. Im Gegenteil. Die Revolution hat ein großes Potenzial an sozialem Widerstand freigesetzt. Infolge dieser Erhebungen ist es heute möglich, sich offen zu organisieren. Dies hat zu einem politischen Aufblühen an der Basis der Gesellschaft geführt. In beiden Ländern existieren neben den islamischen Parteien, die die Wahlen gewinnen konnten, zahlreiche politische Formationen der Linken, die sich verändern und neue Anhänger gewinnen. In Tunesien soll am kommenden Mittwoch die Gründung der linken Front populaire („Volksfront“) bekanntgegeben werden, die 12 Parteien der Linken vereint. In Ägypten konnte der linke Kandidat Hamdeen Sabahi in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl über 20 Prozent gewinnen. Es waren viele seiner Anhänger, die dem Muslimbruder Mursi gegen den Kandidaten der Mubarak-Anhänger Shafik zum Sieg in der zweiten Wahlrunde verholfen haben. Nicht nur Parteien blühen auf, auch viele NGOs und soziale Bewegungen. Die tunesische „Vereinigung der arbeitslosen Akademiker” hatte am Vorabend der Revolution 20 Mitglieder. Heute ist sie auf 10.000 Mitglieder angewachsen. Einer ihrer Anführer Ayari Salam sagt: „Die Revolution hat uns unsere Würde zurückgegeben.“Read more


Neoliberale Programme und Widerstand

Hier mein Bericht aus Kairo vom 18. September
Wir treffen uns mit Amr Adly und Ahmed Mossallem von der Egyptian Initiative for Personal Rights. Diese NGO macht aktionsorientierte Forschung, einer ihrer Schwerpunkte ist die Politik von IWF und Europäischer Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Ägypten nehmen.
Diese wollen die ägyptische Wirtschaft mit neoliberalen Rezepten ummodeln. Die Bedingungen für Kredite sind Privatisierung, Preisliberalisierung und die Kürzung von Subventionen. Für die Mehrheit der Menschen, die bereits jetzt 80 Prozent der Gesundheitskosten und 50 Prozent der Bildungskosten aus eigener Tasche bezahlen, ist das eine absolute Katastrophe.
Die nächsten Wochen werden entscheidend dafür sein, ob IWF und EU ihr Wirtschaftsmodell diktieren können oder ob der Widerstand in Ägypten stark genug sein wird, um dagegen zu halten. Amr und Ahmed kämpfen dafür, dass nur die Subventionen gekürzt werden, die den Reichen nützen, dass Dividenden von Finanztransaktionen besteuert werden, es eine einmalige Reichenabgabe gibt und die Gas-Exportpreise neu verhandelt werden.

Kamal Abu Aita mit einer Gewerkschaftskollegin

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Rassistisches Hassvideo stoppen

 Annette Groth und ich, die wir uns derzeit in Kairo aufhalten, verurteilen in einer Presseerklärung die Ankündigung von Pro-Deutschland, das Hassvideo "Die Unschuld des Islams" zu zeigen:
Es ist eine gezielte rassistische Provokation von Pro-Deutschland, das Schmäh-Video im Internet und im Kino zu zeigen. Es ist absolut heuchlerisch, wenn sich die rechte Splittergruppe Pro-Deutschland, die Neonazi-Kader in ihren Reihen hat, auf Kunst- und Meinungsfreiheit beruft. Den Filmemacher ging es nicht um Meinungsfreiheit, sondern darum, Hass gegen Muslime zu schüren.
Unsere Gespräche in Kairo haben klargemacht, dass das Video die Gefühle der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in Ägypten verletzt - egal welcher politischer Überzeugung und welcher Religion, auch zum Beispiel christliche Kopten. Antimuslimische Übergriffe und Aktionen wie die Demonstrationen von Pro-Deutschland vor Berliner Moscheen oder der rassistische Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini in Dresden im Jahr 2009 werden in Ägypten sehr genau wahrgenommen.
Es ist richtig, zu verhindern, dass dieser Film weiter gezeigt wird. Ausdrücklich unterstützen wir Proteste gegen die Aufführung des Films.
 


Die Revolution ist noch lange nicht zuende

Hier mein Bericht aus Kairo vom 17. September
Unser erstes Treffen am heutigen Tag führt uns ins El Nadeem Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern. Eine Klinik, die 1993 von mehreren Ärztinnen und Ärzten gegründet wurde. Eine von ihnen ist Aida Seif ad-Dawla, Professorin für Psychiatrie. Wir treffen sie in einem der Räume der Klinik, in der Folteropfer, Flüchtlinge und andere Gewaltopfer behandelt werden. Sie berichtet von ihrer Arbeit und dem System der Folter, dass seit mehr als zwanzig Jahren systematisch praktiziert wurde und zunächst ein Mittel war, um die normale Bevölkerung in Angst zu versetzen. Die ersten Jahre wurden kaum politische Aktivisten, sondern einfache Bürgerinnen und Bürger von der Polizei eingeschüchtert und gefoltert. Dann wurden auch Aktivistinnen und Aktivisten im größeren Umfang Opfer der Polizeigewalt. Während in den 90er Jahren Folter in der öffentlichen Diskussion ein Tabu war, gelang es Menschenrechtsaktivisten wie Aida, das Thema Mitte des letzten Jahrzehnts an die Öffentlichkeit zu bringen. Dann waren es die Bloggerinnen und Blogger, die die Zeugnisse und Bilder von Folteropfern veröffentlichten und das Schweigen brachen.

Aida Seif ad-Dawla

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Kairo: Streiks, Graffitis und der linke Kandidat Hamdeen Sabahi

Hier mein Bericht aus Kairo vom 15. und 16. September
Am Abend des 15. September sind wir in Kairo angekommen. Während die deutschen Medien ausschließlich von den Anti-US-Protesten berichten, sieht die Lage vor Ort ganz anders aus. Aktivistinnen und Aktivisten berichten von einer Vielzahl von Streiks, die am heutigen Sonntag stattfinden. Lehrerinnen und Lehrer nutzen den ersten Schultag nach der Sommerpause, um zu streiken. Insgesamt sind heute 10.000 Lehrkräfte in sieben Provinzen im Ausstand.  Wir besuchen einen kleinen Streikposten vor dem Gebäude der Volksversammlung. Als wir dort mit einem Lehrer reden, umringen uns Arbeiter eines metallverarbeitenden Unternehmens, die gerade gefeuert wurden. Sie fordern Arbeitsverträge von der Regierung.

Annette Groth, MdB DIE LINKE und ich in Kairo

Wir fahren weiter zur Universität von Kairo. Dort streiken, wie in acht weiteren staatlichen Universitäten im Land, die Verwaltungsangestellten. Auch sie fordern Verträge und bessere Bezahlung. In weiteren Branchen streiken die Beschäftigten, zum Beispiel die Busfahrer.Read more