Die Vorwürfe von Sexismus und sexuellen Übergriffen innerhalb der Partei DIE LINKE sind schwerwiegend. Gemeinsam mit Volkhard Mosler erkläre ich, wie konsequentes Handeln gegen Sexismus, Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt aussehen kann.

Sexismus ist ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft, das sich in allen Lebensbereichen äußert und das Leben insbesondere von Frauen und LGBTIQ* massiv beeinträchtigt. Er äußert sich in ungleichen Löhnen und beruflichen Chancen, in ungleicher häuslicher Aufgabenteilung, in Schönheitsidealen und in sexueller Belästigung und Gewalt. Diese wiederum kann sich verbal äußern, aber auch durch unfreiwillige Berührungen oder tätliche Gewaltanwendung. Über ein Drittel aller Frauen in Deutschland haben bereits körperliche und/oder sexualisierte Gewalt ab ihrem 15. Lebensjahr erfahren.

Keine Toleranz von Sexismus

Übergriffe und alltäglicher Sexismus sind wie Rassismus und andere Formen der Diskriminierung nicht hinzunehmen – nicht in der Gesellschaft, und schon gar nicht in einer linken Partei. Neben dem Leid, das sexistisches Verhalten oder Übergriffe für die Opfer bedeuten, unterminiert dieses auch den gemeinsamen Kampf für eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung und fügt so der LINKEN schweren Schaden zu, insbesondere dann, wenn sexistische Verhaltensweisen innerhalb der organisatorischen Strukturen der Partei heruntergespielt oder gar toleriert werden.

Sexistisches Verhalten nimmt keineswegs nur die Form nicht einvernehmlicher körperlicher sexueller Kontakte an, sondern äußert sich häufig in verbalen Erniedrigungen oder nonverbalen Formen der Kommunikation. Viele der sexistischen Verhaltensweisen sind nicht »justiziabel«, weil sie keinen Straftatbestand darstellen. Und selbst wenn es sich um eindeutig strafbare Übergriffe handelt, versagt in vielen Fällen die bürgerliche Justiz. So wird kriminologischen Untersuchungen zufolge in Deutschland bei nur 5 bis 15 Prozent der Vergewaltigungsfälle überhaupt Anzeige erstattet. Und von diesen Fällen werden die Täter letztlich in weniger als 10 Prozent tatsächlich verurteilt. Das bedeutet, dass von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, nur etwa eine Betroffene die Verurteilung des Täters erlebt.

In den letzten Jahren hat es vermehrt Kämpfe gegen Sexismus und soziale Diskriminierung von Frauen gegeben – weltweit und auch in Deutschland. Kämpfe gegen alle Formen der Frauenunterdrückung sind notwendig, um Sexismus zu bekämpfen und Spaltungen zu überwinden. So können sie auch einen Beitrag zur Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft leisten.

Sexismus in der LINKEN

Sexistisches Verhalten gibt es auch in linken Parteien und Organisationen, da ihre Mitglieder geprägt sind durch die Gesellschaft in der sie leben. Umso wichtiger ist es, dass linke Organisationen wie DIE LINKE dafür sorgen, dass in der Partei ein Klima besteht, in dem Sexismus und sexualisierte Gewalt geächtet werden. Und sie müssen sich Regeln geben, um mit Formen sexistischen Verhaltens umzugehen. Eigene, internen Strukturen der Aufklärung und gegebenenfalls Sanktionen sind nötig. Bürgerlichen Medien, die in der Regel den Skandal lieben, aber keinerlei Interesse an einer LINKEN mit solidarischen Umgangsformen unter den Genoss:innen haben, sind nicht der geeignete Ort mit diesem Problem umzugehen.

Dass in diesem Frühjahr Vorwürfe gegen mehrere Mitglieder der LINKEN über die Medien öffentlich wurden, hatte vor allem einen Grund: Es fehlen in der LINKEN bislang Strukturen und Verfahren, wie mit solchen Vorwürfen umgegangen wird. Es fehlt daher auch das Vertrauen, dass sexistisches Verhalten oder sexuelle Übergriffe durch einen unabhängigen und kompetenten Ausschuss von Vertrauensleuten festgestellt und gegebenenfalls angemessen sanktioniert wird. DIE LINKE braucht Strukturen und Verfahren, die nach transparenten Regeln funktionieren und in der Partei bekannt und akzeptiert sind. Zwar hat der Parteivorstand der LINKEN im Oktober 2021 eine »Vertrauensgruppe« eingerichtet, dieses Gremium hat allerdings bisher keine klaren Verfahrensregeln und kein klares Selbstverständnis.

Umgang mit Vorwürfen des Sexismus

Am 20. April hat der Parteivorstand der LINKEN nun beschlossen, eine innerparteiliche Organisationsstruktur zu schaffen. Es braucht jetzt eine gemeinsame Debatte, um einen hohen Grad der Zustimmung für die neu zu schaffenden Strukturen und mögliche Satzungsänderungen auf dem kommenden Parteitag in Erfurt im Juni 2022 zu erreichen.

Allerdings sind viele Details noch unklar. Der Parteivorstand will neue Gremien (Vertrauensleute-Ausschüsse) neben dem Bundesschiedsgericht schaffen, die als Anlaufstelle für Beschwerden und Klagen gegen sexistische Verhaltensweisen und Übergriffe gedacht sind. Unklar bleiben die Kompetenzen und Aufgaben der Vertrauensleute, vor allem in Abgrenzung zu den Schiedskommissionen der Partei.

Wie immer auch die Satzungsänderungen der LINKEN im Lichte der aktuellen #metoo-Debatte aussehen mögen, sollten Prinzipien gelten, die transparent und fair sind. Die von sexuellen Übergriffen und Fehlverhalten betroffenen Mitglieder müssen mit ihren Beschwerden ernst genommen werden. Sie haben ein Recht auf Vertraulichkeit, solange es bei einem innerparteilichen Verfahren bleibt.

Die Aufklärung und Beurteilung der Vorwürfe oder Beschuldigungen müssen dem/der Beschuldigten die Möglichkeit der eigenen Darstellung geben – auch er oder sie haben den Anspruch auf Vertraulichkeit. Nur so kann es überhaupt eine Chance einer sorgfältigen Aufklärung geben. Wie bei jedem ordentlichen Gerichtsverfahren muss es eine klare Reihenfolge von Untersuchung, Beurteilung und möglichen Sanktionen geben. Und wie bei jedem bürgerlichen Gerichtsverfahren muss auch hier gegenüber Angeklagten die Unschuldsvermutung gelten.

Werden Personen zu Recht eines übergriffigen Verhaltens beschuldigt, kann das zuständige Gremium/Schiedsgericht je nach Art und Ausmaß des Fehlverhaltens auf ein abgestuftes System von Ordnungsmaßnahmen und Sanktionen zurückgreifen. Eine Klärung muss zügig durchgeführt werden, ohne dass eine Vorverurteilung stattfindet.

Es geht um Aufklärung und gleichzeitig darum, die politische Arbeit vor der Auseinandersetzung um potenzielles Fehlverhalten zu schützen. Denn die politischen Gremien und Unterorganisationen der Partei sind nicht in der Lage, aufzuklären, zu urteilen und zu sanktionieren.

Die offensichtlich mangelhaften Strukturen in der LINKEN zum Umgang mit Vorwürfen des Sexismus und Übergriffen erweisen sich als schweres Versäumnis. Nun, da die Vorwürfe öffentlich sind, können diese von politischen Gegnern und Teilen der Medien instrumentalisiert werden, um der Partei zu schaden und DIE LINKE insgesamt weiter zu schwächen.

»Definitionsmacht« und »Transformative Gerechtigkeit«

Es gibt verschiedene Ansätze, wie mit Sexismus, Rassismus und anderen diskriminierenden Verhaltensweisen in linken Zusammenhängen umzugehen ist. In der Diskussion ist zum Teil von »Definitionsmacht« die Rede. Dahinter steht ein Konzept, das allein die betroffene Person definieren lässt, was Sexismus (oder Rassismus) sei, beziehungsweise ob sexistische Übergriffe stattgefunden haben. Das ist insofern nachvollziehbar, als bürgerliche Gerichte und der Staat einen großen Teil von sexistischen Grenzüberschreitungen nicht anerkennen, vor allem weil sie oft nicht beweisbar sind.

Das Problem mit der Definitionsmacht besteht jedoch darin, dass nur das subjektive Empfinden der eine Beschuldigung erhebenden Person zählt. Hinterfragung gilt als Täterschutz. Beschuldigte haben somit keine Möglichkeit der Stellungnahme, außer der juristischen. Ein solches Vorgehen fällt damit hinter die Rechtsprechung bürgerlicher Gerichte zurück, in denen ein Urteil auf Grundlage einer sachlichen Untersuchung der Strafe vorausgehen und dieser als Begründung dienen muss.

Auch wenn wir zu Recht davon ausgehen, dass die klagende Person unser Vertrauen und unsere Unterstützung erhalten muss, darf ein Schuldspruch nicht auf bloßem Zuruf erfolgen und muss, so schwierig das gerade bei Sexualdelikten auch ist, im Einzelfall überprüft werden.

Dem Konzept der Definitionsmacht entgegen steht das Konzept der »Transformativen Gerechtigkeit«: Personen, die sexistisches Verhalten oder einen sexuellen Übergriff melden, werden ernst genommen, jedoch ohne eine Vorverurteilung der beschuldigten Person. Es ist ein Prozedere, das dazu dienen soll, den Fall zu klären und Strukturen zu schaffen, um Sexismus und Diskriminierung zu erschweren. Wichtig beim Konzept der Transformativen Gerechtigkeit ist der Ansatz, Alternativen zur Strafjustiz in Fällen von zwischenmenschlicher Gewalt zu finden. So beinhaltet der Ansatz eine Kritik an der strafenden Justiz. Zudem verfolgt er die Absicht, nicht nur die Opfer in die sozialen Strukturen ihres Umfelds einzubeziehen und dort zu reintegrieren, sondern auch die Täter zu resozialisieren. Bei Vergehen unterhalb der Schwelle eines Offizialdelikts können Gespräche und Bildungsangebote und spezifische Auflagen helfen, dass die zu Recht beschuldigte Person ihr Verhalten nachhaltig ändert.

Auch Mitglieder der LINKEN und Menschen, die sich der Partei aus ihren Erfahrungen in sozialen Protestbewegungen und Klassenkämpfen anschließen, haben in den allermeisten Fällen kein durchgängig fortschrittliches, sondern ein widersprüchliches Bewusstsein. Doch Menschen ändern sich, indem sie beginnen, die Welt zu verändern, in der sie leben und unter der sie leiden. Unterhalb der Schwelle offener sexueller Gewalt gibt es sexistische Verhaltensweisen, die wir innerhalb der Partei bekämpfen müssen, ohne jedoch alle Mitglieder auszuschließen, die noch Elemente solcher Verhaltensweisen äußern.

Aufarbeitung statt Instrumentalisierung

Im Zusammenhang mit den nun bekannt gewordenen Fällen, in denen Parteimitglieder der LINKEN beschuldigt werden, sexuelle Übergriffe begangen oder diese gedeckt zu haben, ist auch die Parteivorsitzende Janine Wissler als ehemalige Fraktionsvorsitzende in Hessen und Ex-Partnerin eines Beschuldigten in den Fokus geraten.

Sie in den Fokus der Auseinandersetzung zu stellen und zu demontieren entspricht nicht der bisher bekannten Faktenlage und wird weder der Aufarbeitung der Vorwürfe noch der strukturellen Fehler der Partei gerecht.

Die Fehler müssen behoben und damit eine Grundlage geschaffen werden, dass die Partei endlich wieder in die Offensive kommt. Die Aufgaben sind riesig, denn es wird weiter eine schlagkräftige, kampagnenfähige LINKE gebraucht.