Die militärische Niederlage des Westens in Afghanistan ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Dabei zeigen die Afghanistan Papers: eine Aufarbeitung des Krieges und seiner katastrophalen Folgen ist dringend geboten. Hier meine Rezension des Buches
„Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg“ des Washington-Post-Journalisten Craig Whitlock.

 

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit – so heißt es in einem geflügelten Wort. Der Washington-Post-Journalist Craig Whitlock weist in seinem Bestseller »Die Afghanistanpapers. Der Insider Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg« nach, wie die Wahrheit nicht nur zu Beginn des Afghanistankrieges, sondern über 20 Jahre ignoriert und verdreht wurde.

Whitlock hat selbst unzählige Male Afghanistan besucht, er stand in Kontakt zu Militärangehörigen und Politiker:innen, er hat sich durch Archive gearbeitet, Memos von Donald Rumsfeld, sogenannte Schneeflocken, genauso ausgewertet wie »Lesson Learned«-Interviews des Büros des Sondergeneralinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans mit Hunderten von Kriegsteilnehmer:innen. Diese Interviews, deren Freigabe die Washington Post gerichtlich erkämpfen musste, geben einen tiefen Einblick in die Frustration der Kriegsteilnehmenden mit der Realität vor Ort, aber auch mit der Ignoranz der politischen Entscheidungsträger:innen, die von Anfang an die Bilanz des Afghanistankrieges geschönt haben.

Rumsfeld verbreitet keine sechs Monate nach Kriegsbeginn die Botschaft von dem vollständigen Sieg über die Taliban und al-Qaida. »Mir ist nicht klar, wer die Bösen in Afghanistan sind«, beklagt er sich eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn bei seinem Geheimdienstchef. Weder konnte die US-Armee zwischen Zivilist:innen und Aufständischen unterscheiden, noch zwischen Taliban und Al-Qaida.

Schon früh geben Militärangehörige zu Protokoll, wie wenig sie von der Situation und der Stimmung im Land wussten und wie falsch die Einschätzung der Politik und der Generalität war. »Kulturelle Ignoranz und Missverständnisse machten den US-Militärs zu schaffen«, schreibt Whitlock. Er zitiert einen Major, der in den »Lesson Learned«-Interviews zu Protokoll gab, »für etwa 90 bis 95 Prozent der Afghanen hätten wir genauso gut Aliens sein können«.

Während von 2006 an die Kämpfe zunahmen, verbreitet die US-Regierung Erfolgsmeldungen von Fortschritten – von der »Verbesserung der Geflügelhaltung« über die Berufstätigkeit von Frauen sowie die gesteigerte Durchschnittsgeschwindigkeit auf afghanischen Straßen.

Die US-Regierung hat Unsummen an Warlords und korrupte Politiker gezahlt. Besonders nimmt Whitlock die Verbindungen der US-Regierung zu dem brutalen General Rashid Dostum unter die Lupe. »Sie tolerierten die schlimmsten Übeltäter  Politiker, Warlords, Drogenhändler, Rüstungsunternehmen , weil sie Alliierte der Vereinigten Staaten waren.«

Die Nato fing erst 2005 an, zivile Opfer zu registrieren, stellte das Programm aber wieder ein. Die UN weiteten 2009 ein Projekt zur Erfassung der getöteten und verletzten Zivilist:innen in Afghanistan aus. Wirklich interessierten diese Zahlen in Washington jedoch niemanden. Sie interessierte auch nicht, dass es im Vergleich zu den Nato-Truppen unter den uniformierten Afghanen das 18-Fache an Getöteten gab.

Craig Whitlocks Buch ist eine Fundgrube für Erfahrungen und Beispiele, um das US-amerikanische Desaster in Afghanistan zu verstehen. Auch die Bundesregierung hat die Öffentlichkeit über die Realität in Afghanistan getäuscht. Sie hat von Fortschritten gesprochen und nicht verstanden, dass die Kriegsführung der USA und der NATO-Staaten einerseits sowie die Kollaboration mit der korrupten Regierung andererseits die Mehrheit der Bevölkerung den Taliban in die Arme trieb. Eine Aufarbeitung des Afghanistan-Desasters für Deutschland steht noch aus.

Die Afghanistan-Papers sind eine Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, wie Kriegslügen entstehen und am Leben erhalten werden. Das Buch zeigt anschaulich – auch wenn Whitlock es so nicht ausdrücken würde – dass die Nato kein Verteidigungsbündnis, sondern ein imperialistisches Kriegsbündnis ist.

Die Rezension erschien in Marx21, März 2022