Kundus-Massaker 2009: Bundesregierung ist mit Verschleierungstaktik durchgekommen. Mein Gastkommentar für die junge Welt

Die Bombardierung von zwei Tanklastern in Kundus am 4. September 2009, bei der über 100 Zivilisten getötet wurden, ist das größte Kriegsverbrechen, das deutsche Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten haben. Zwei an dem Prozess um Schadensersatzforderungen von Hinterbliebenen der Kundus-Opfer beteiligte Richter des Bundesgerichtshofes (BGH) haben die öffentliche Darstellung des Kundus-Massakers jüngst einen „Propaganda-Erfolg der Taliban“ genannt. Sie behaupten, es hätten sich weder Zivilisten am Ort des Luftangriffs befunden noch hätte der kommandierende Oberst Georg Klein ohne Vorwarnung bombardieren lassen.

Diese Erzählung ist eine Verhöhnung der Opfer und sie ist falsch. Die 2010 im Untersuchungsausschuss von der afghanischen Kommunalpolitikerin Dr. Habibe Erfan präsentierten Rechercheergebnisse belegen, dass viele Zivilisten vor Ort waren. Erfan sammelte Belege, dass mindestens 113 Zivilisten getötet wurden. Auch eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation „Afghanistan Independent Human Rights Commission“ kommt zu dem Schluss, dass über 100 Menschen getötet wurden. Oberst Klein unterschied nicht zwischen Aufständischen und Zivilisten – und verletzte damit eine Grundregel des Völkerrechts.

Im Fachblatt Neue Juristische Wochenschrift schreiben der Vorsitzende Richter am BGH, Ulrich Herrmann, und BGH-Richter Harald Reiter: „Die beiden Kampfflugzeuge kreisten lärmend von 1:08 Uhr bis zum Bombenabwurf um 1:49 Uhr in nur 360 m (!) Höhe über der Szenerie.“ Damit wiederholen sie Kleins Rechtfertigung, dass den „Aufständischen“ bewusst gewesen sein musste, dass Flugzeuge über ihnen gewesen waren. Aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages geht hervor, dass die US-Piloten mehrmals nachfragten, ob sie einen sogenannten „show of force“ durchführen sollten. Denn die NATO-Einsatzregeln definieren klar, dass ein bevorstehender Angriff mit einem solchen Überflug in niedriger Höhe angekündigt werden muss. Diesen lehnte Klein jedoch ab, wie im Untersuchungsausschuss festgestellt wurde, und missachtete damit eine NATO-Einsatzregel.
Alle Bundesregierungen seit 2009 haben die Erkenntnisse aus dem Untersuchungsausschuss ignoriert. Ermittlungsverfahren gegen den kommandierenden Oberst Klein wurden nach fünf Wochen eingestellt – und er später zum General befördert. Für die Opfer gab es nie eine offizielle Entschuldigung. In mehreren Gerichtsverfahren wurde den Hinterbliebenen das Recht auf Entschädigungszahlungen abgesprochen. Abdul Hanan, der Vater zweier in Kundus getöteter Kinder, ist im Februar 2021 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in letzter Instanz mit seiner Klage gegen die Bundesrepublik gescheitert.

Die Bundesregierung ist mit ihrer Verschleierungstaktik durchgekommen: Die Bundeswehr kann sich an Kriegsverbrechen beteiligen – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Es ist der kritischen Öffentlichkeit zu verdanken, dass die Opfer von Kundus nicht vergessen sind. Doch die zwei Richter des Bundesgerichtshofes möchten auch das noch ändern. Sie bedauern, dass Oberst Klein „weiterhin in einem völlig falschen Licht steht“. Wie der Bundesregierung ist ihnen das Image der Bundeswehr wichtiger als die Wahrheit. Ihr Kommentar steht stellvertretend für die Ignoranz der kriegführenden Länder gegenüber den Opfern ihrer Kriege.

In diesen Tagen denke ich oft an Bulbul. Die alte Frau konnte ihre drei kleinen Enkel nicht davon abhalten, mit den anderen zum Fluss zu laufen, wo Männer und Jungen aus den Dörfern versuchten, Benzin aus den Tanklastern abzuzapfen. Die drei starben im Feuerball. „Wären wir nicht arm“, erzählte mir Bulbul 2010 bei einem Besuch in Kundus, „hätten wir kein Benzin gebraucht.“ Die Begegnung mit den Hinterbliebenen hat mir deutlich gemacht: Deutschland führte in Afghanistan Krieg gegen die einfache Bevölkerung. Kundus ist das wahre Gesicht des Krieges in Afghanistan. Nach der Niederlage des Westens müssen Lehren gezogen werden: Die Opfer müssen entschädigt und die Bundeswehr aus den Auslandseinsätzen zurückgezogen werden.