Interview mit marx21 über den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr, Antiimperialismus und die Reaktionen der Linken: Die Bundesregierung hat im Bundestag über den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr abstimmen lassen. Sie sagt, sie wolle damit den Menschen »helfen«, die aus Afghanistan flüchten möchten. Ist der Einsatz gerechtfertigt? Es ist richtig, Menschen zu retten. Das fordert DIE LINKE seit Jahren mit Nachdruck. Mit dem Bundeswehr-Mandat will die Bundesregierung allerdings Handlungsfähigkeit vorgaukeln und das Scheitern des NATO-Krieges sowie ihr Evakuierungs-Fiaskos kaschieren.

Wieso »Evakuierungs-Fiasko« – die Bundesregierung hat doch tausende Menschen ausgeflogen?

Nur ein Bruchteil der Menschen, die sich durch die Machtübernahme der Taliban in Gefahr sehen, habe die Chance auf eine Ausreise. Menschenrechtsaktivist:innen und andere afghanische Bürger:innen standen nicht auf der Prioritätenliste der Bundesregierung. Viele von ihnen haben in den letzten Tagen verzweifelt vor dem Flughafen in Kabul gewartet und sind doch abgewiesen worden. Andere sind gar nicht erst in der Lage, den Flughafen in Kabul aus anderen Teilen des Landes zu erreichen. Sie sind als Binnenflüchtlinge unterwegs oder müssen in die Nachbarländer Afghanistans fliehen.

Wie möchte die Linkspartei das Problem lösen?

Dass es am Ende immer nur eine militärische Option zu geben scheint, hat viele Gründe. Das Auswärtige Amt hat es, trotz eines entsprechenden Auftrags des Kabinetts, wochenlang versäumt, Evakuierungspläne vorzulegen. Als Partei haben wir schon seit langem die Evakuierung von Ortskräften der Bundeswehr und weiteren schutzbedürftigen Personen gefordert und im Juni 2021 diese Forderung im Bundestag abstimmen lassen. Alle anderen Fraktionen waren dagegen.

Was ist falsch daran Menschen aus einem Land auszufliegen, die dort nicht mehr Leben möchten?

Wir sind natürlich dafür, dass alle Menschen die Afghanistan verlassen möchte, die Möglichkeit dafür bekommt. Aber das Mandat, dass beschlossen wurde, geht weit darüber hinaus.

Warum?

Es handelt sich um ein sogenanntes robustes Mandat. Die Bundesregierung erlaubt den Gebrauch militärischer Gewalt. Das Mandat ist räumlich nicht auf Kabul beschränkt, sondern gilt in ganz Afghanistan. Im Rahmen des Einsatzes können Soldatinnen und Soldaten der Division Schnelle Kräfte sowie des Kommando Spezialkräfte eingesetzt werden. All das sind Gründe, die eine Zustimmung aus linker Sicht unmöglich machen.

Aber ist es nicht »naiv« zu meinen, ohne Militär könnten jetzt noch Menschen aus Kabul ausgeflogen werden?

Nein, im Gegenteil. Die Evakuierung kann nur im Einverständnis mit den Taliban stattfinden, nicht gegen sie. Selbst die Bundesregierung weiß das und verhandelt. Warum braucht man dann ein militärisches Mandat, dass im Zweifelsfall zu militärischen Eskalationsszenarien führen kann? Der Militäreinsatz des Westens hat die ganze Situation ja erst produziert. Mit der Niederlage des westlichen Imperialismus in Afghanistan ist auch die Interventionspolitik der NATO krachend gescheitert. Naiv wäre es daraus keine Konsequenz zu ziehen. Das kann nur heißen: Schluss mit der militärischen Logik der Interventionspolitik.

Wie steht dies in Zusammenhang mit dem »Evakuierungseinsatz«?

Der Krieg in Afghanistan darf nicht durch einen erneuten Militäreinsatz angefacht werden, er muss beendet werden. Mithilfe von Hubschraubern sollten Spezialkräfte Menschen aus schwer zugänglichen Gebieten evakuiert werden. Diese Art von Einsatz bietet ein dramatisches Eskalationspotenzial. Das Risiko einer Eskalation verstärkt sich durch die Ankündigung der Taliban, die NATO-Truppen müssten das Land bis zum 31. August verlassen, weiter. Ich weiß von Menschen, die so erschöpft waren, dass sie nach Tagen den Flughafen wieder verlassen haben, obwohl sie auf Listen standen. Die Entsendung von Kampftruppen in diese explosive und unübersichtliche Situation ist verantwortungslos. Ich habe den Eindruck, dass das Verteidigungsministerium hiermit auch das KSK rehabilitieren und seine Daseinsberechtigung untermauern will. Es bleibt richtig zu sagen, dass der Krieg in Afghanistan nicht durch einen erneuten Militäreinsatz angefacht werden darf. Die Bundeswehr hat jetzt gut 5000 Personen ausgeflogen. Dem Großteil der Menschen, die sich durch die Taliban bedroht sehen, wurde nicht geholfen.

Wie bitte?

Nach Angaben des Spiegels geht das Auswärtige Amt davon aus, dass sich in Kabul insgesamt noch eine »hohe vierstellige oder niedrige fünfstellige Zahl« schutzbedürftiger Menschen befindet, die »grundsätzlich für eine Evakuierung infrage kämen«. Trotz dessen wird die Luftbrücke beendet. Das macht das ganze Ausmaß des Versagens der Bundesregierung deutlich.

Du hattest in den letzten zwei Wochen mit vielen Menschen Kontakt, die helfen, bedrohte Personen aus Afghanistan herauszukommen. Was berichten dir diese Menschen?

In keinem Fall ist es gelungen, Personen auf die Rettungsflüge der Bundeswehr zu bekommen. Ich weiß von Menschen, die so erschöpft waren, dass sie nach Tagen den Flughafen wieder verlassen haben, obwohl sie auf Listen standen. Ich weiß von Menschen, die sich schon auf anderem Wege auf die Flucht gemacht haben. Der Frust über den Westen ist riesig. Deswegen ist es jetzt entscheidend, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, dass sie an alle Schutzbedürftigen Visa ausstellt.

Menschen, die sich gegen den Militäreinsatz stellen, wird vorgeworfen die Taliban zu verharmlosen. Was denkst du darüber?

Es ist schon immer ein Anliegen der Kriegstreiber:innen Menschen, die sich für Frieden einsetzen zu diffamieren. Dabei scheuen sie auch vor Lügen nicht zurück. Wer meint, DIE LINKE würde die Herrschaft der Taliban begrüßen, kennt DIE LINKE nicht. Die Taliban sind keine Verbündeten der Linken.

Aber du sprichst selber davon, dass die Taliban den US-Imperialismus besiegt haben?

Festzustellen, dass die Taliban den Krieg gewonnen haben, ist nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung derselben. Manche Kritiker:innen von antiimperialistischer Politik scheinen das zu verwechseln. Die Rückkehr der Taliban in die Regierung ist bitter. Allerdings haben die Menschen in Afghanistan auch das Recht sich gegen die Besatzung zu wehren. Das die USA und die anderen imperialistischen Staaten den Krieg verloren haben eröffnet jetzt die Chance auf Frieden in der Region. Oder wie es der britisch-pakistanisch Autor und Friedensaktivist Tariq Ali durch ein Zitat einer bekannte afghanische Feministin auf den Punkt bringt: »Die afghanischen Frauen hatten drei Feinde: Die westliche Besatzung, die Taliban und die Nordallianz. Mit dem Abzug der Vereinigten Staaten, sagte sie, werden sie zwei haben«.

Wie ordnest du die Taliban ein?

Die Rückkehr der Taliban in die Regierung ist bitter. Was man allerdings wissen muss: Der Aufstieg der Taliban ist die direkte Folge der jahrzehntelangen imperialistischen Intervention. Sie rekrutieren sich aus mittellosen Koranschülern der pakistanischen Flüchtlingslager. In den 1980er Jahren wurden Gruppen von Aufständischen mit Waffen, Geld und Training aus Saudi-Arabien, Pakistan, den USA, aber auch Deutschland unterstützt, um im afghanisch-sowjetischen Krieg den sowjetischen Einfluss zurückzudrängen. Aus Teilen dieser Akteure haben sich später die Taliban gegründet.

Warum unterstützen trotzdem viele Menschen in Afghanistan die Taliban?

Unterstützung ist vielleicht das falsche Wort. Der Hass auf die Besatzung unter der Mehrheit der Afghan:innen ist so groß, dass die Herrschaft der Taliban in Kauf genommen wird. Das Leid, dass die 20-jährige imperialistische Besatzung durch den Westen über Menschen in Afghanistan gebracht hat, lieferte den Nährboden für das Wiedererstarken der Taliban.

Zeigt der Durchmarsch der Taliban und das Chaos in Folge des Abzugs der USA und Deutschlands nicht, dass der Abzug falsch war?

Die Bundesregierung und ihre Verbündeten haben alle Warnungen vor dem Wiedererstarken der Taliban in Folge des Krieges ignoriert. Es ist nicht der Abmarsch der internationalen Truppen, der das Chaos geschaffen hat, das Chaos ist Konsequenz des 20-jährigen Krieges. Es bewahrheitet sich, was die Linke schon immer sagt: Demokratie, Menschenrechte und Entwicklung können nicht von außen gebracht und herbei gebombt werden. Der Krieg hätte nie begonnen werden dürfen, der Abzug war überfällig.

Warum haben die USA die Truppen abgezogen?

Die USA und ihre Verbündeten waren trotz ihrer militärischen Überlegenheit in Afghanistan am Ende. Sie konnten einfach nicht mehr weitermachen, wie sie wollten. Das hat auch mit der starken Antikriegsstimmung in den USA selbst zu tun.

Für die Bundeswehr war es der bis dato längste Auslandseinsatz ihrer Geschichte. Warum hat die Bundeswehr beim Afghanistankrieg mitgemacht?

Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) rechtfertigte dies damals eine Frage mit der Behauptung, am Hindukusch werde die deutsche Sicherheit verteidigt. Der rot-grünen Bundesregierung ging es auch darum, militärische Präsenz zu zeigen und den Umbau der Bundeswehr zur globalen Einsatzarmee weiter voranzubringen. Der grüne Außenminister Joschka Fischer fasste das Machtinteresse hinter dem Einsatz zusammen: »Die Entscheidung ‚Deutschland nimmt nicht teil’ würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und würde letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen.« Afghanistan war vor allem ein Testfeld, um die Bundeswehr zu einem globalen Akteur zu machen. An der Seite der amerikanischen Streitkräfte wuchs sie in neue Aufgaben hinein, lernte das aktive Gefecht, die Steuerung von Drohnen und beteiligte sich an der systematischen Ermordung von gegnerischen Kämpfern.

Ging es bei der NATO-Intervention nicht auch um Frauenrechte in Afghanistan?

Dass es bei dem Krieg gegen die Taliban um Demokratie und Menschenrechte gehen sollte war von Beginn an eine Lüge. Frauenrechtlerinnen wie Malalai Joya weisen das zurück.

Aber nach Statistiken des US-Außenministeriums konnten über sechs Millionen Kinder die Schule besuchen, davon etwa 32 Prozent Mädchen.

Natürlich versucht das Außenministerium der USA die Besatzung im besten Licht darzustellen. Aber Fakt ist: Lediglich einer kleinen Minderheit von Frauen und Mädchen ging es besser unter der westlichen Besatzung. Der Großteil der Bevölkerung profitierte nie von dem Krieg.

In wie fern?

Die soziale Lage verheerend. Rund 80 Prozent der Menschen leben nach wie vor unterhalb der Armutsgrenze. Rund 3,7 Millionen Kinder in Afghanistan gehen laut einer UN-Studie aus dem Jahr 2019 nicht zu Schule – 60 Prozent davon sind Mädchen. Frauenrechte werden und wurden von den Befürworter:innen des Krieges instrumentalisiert, um den Terror und Schrecken den die Drohnen und Soldat:innen der Zivilbevölkerung angetan haben zu übertünchen. Zudem ist das Gerede von den Frauenrechten pure Heuchelei.

Warum?

Das Frauenbild des saudischen Königshauses ist ähnlich reaktionär wie das der Taliban. Trotzdem liefert die Bundesregierung Waffen nach Saudi-Arabien. Diese Waffen feuern den Jemen-Krieg an unter dem auch Hunderttausende Frauen und Mädchen zu leiden haben. Afghanische Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalistinnen, und all diejenigen, die für Frauen- und Menschenrechte gekämpft haben, werden jetzt alleine gelassen, weil Europa sich vor Geflüchteten abschottet. Menschenrechte sind unteilbar, sie sterben im Krieg als erstes.

Welche Lehren gilt es aus dem Desaster in Afghanistan ziehen?

In den Kriegen der Herrschenden geht es nie um Menschenrechte oder Demokratie. DIE LINKE hat den Krieg in Afghanistan zum Glück immer abgelehnt. Nach 20 Jahren Krieg gegen Terror sollte jedoch klar sein: Wir müssen mit Nachdruck für die Beendigung der Auslandseinsätze und ein Stopp der Waffenlieferungen eintreten. Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik wurde in den letzten Jahrzehnten immer weiter vorangetrieben. Die Linke kann nie einem Auslandseinsatz zustimmen – egal für Gründe die Regierenden anführen. Es ist bedenklich, wenn sich die Stimmen in der Partei mehren, dass man einem Bundeswehrmandat unter bestimmten Umständen zustimmen kann und fünf Abgeordnete für das Evakuierungsmandat stimmen. Ein Teil der Partei möchte das prinzipielle Nein zum Krieg aufweichen, um auf der Bundesebene regierungsfähig zu werden. Das müssen wir entschieden zurückweisen. Gleichzeitig ist auch deutlich geworden, dass Friedenspolitik nicht nur antimilitaristisch, sondern auch antirassistisch sein muss

Wie meinst du das?

Um die aggressive Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten zu rechtfertigen, wurde der »Islam« von den westlichen Regierungen gezielt zum neuen Feindbild aufgebaut – der Rassismus gegenüber Muslimen in westlichen Ländern erfuhr einen dramatischen Aufschwung. Der Kampf gegen antimuslimischen Rassismus ist daher nicht nur ein Mittel um die Unterdrückung der größten religiösen Minderheit zu beenden, sondern auch ein wichtiger Schritt um Kriegspropaganda zu entlarven. Diesen Kampf sollten wir gemeinsam mit den Betroffenen führen und so eine Bewegung schaffen, die sich gegen Rassismus und Krieg stellt.

Was sollte die Linke jetzt fordern?

Wir müssen uns für die Aufnahme von allen Menschen einsetzen, die Afghanistan verlassen wollen. Es braucht eine massive Aufstockung des UN-Flüchtlingsfonds für Afghanistan. Abschiebungen müssen sofort und dauerhaft gestoppt werden. Es braucht offene Fluchtwege in die Nachbarstaaten Afghanistans und in die sowie innerhalb der Europäischen Union. Afghan:innen, die in Deutschland leben, müssen sicher bleiben können. Es braucht eine massive Aufstockung des UN-Flüchtlingsfonds für Afghanistan. Abschiebungen müssen dauerhaft gestoppt werden.

Es ist Wahlkampf. Wie sollte DIE LINKE mit dem Desaster in Afghanistan umgehen?

DIE LINKE hat von Anfang die Beteiligung der Bundeswehr am Militäreinsatz in Afghanistan kritisiert und abgelehnt. Das sollten wir auch im Wahlkampf deutlich machen. Die Milliarden von Euro für Krieg und Aufrüstung brauchen wir für Bildung und Soziales. Gleichzeitig sollte klar sein: Unsere Stärke können wir nur zur Geltung bringen, wenn wir von unten gesellschaftliche Gegenmacht aufbauen. Das ist kein einfacher Weg, vor allem angesichts des vergleichbar niedrigen Niveaus an Klassenkämpfen, aber es ist der einzige erfolgversprechende Weg – auch für eine friedlichere Außenpolitik.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Yaak Pabst.