Gerade bin ich nach zwei intensiven Tagen in der Türkei zurück in Berlin gelandet. Das in zwei Wochen anstehende Verfassungsreferendum ist in der Stadt omnipräsent. An jeder Ecke überdimensionierte Bilder von Erdogan und ein „Evet“ („Ja“) aus meterhohen Buchstaben. Überall Plakate, Fahnen, Sticker, Flyer und seltener auch ein „Hayir“ („Nein“) dazwischen. Hier ein paar erste Eindrücke:

Nicht zu übersehen: „Ja“-Plakate

In Istanbul habe ich Erdal Atas, einer von sieben Istanbuler Abgeordneten der HDP und mein Partner-Abgeordneter aus dem Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“, besucht und verschiedene Aktivistinnen der HDP sowie Journalisten getroffen. Die zwei großen Themen: Natürlich das Referendum, mit dem Präsident Erdogan seine Macht ausbauen möchte und die Verfolgung und Menschenrechtsverstöße gegen seine politischen Gegner.

Christine Buchholz und Erdal Atas, HDP-Abgeordneter aus Istanbul

10.000 Aktivist/innen und Politiker/innen der HDP wurden festgenommen, erzählte einer der Anwälte der Partei bei einem Treffen in der Istanbuler Parteizentrale, darunter Funktionäre und Abgeordnete, Bürgermeister/innen, die beiden Parteivorsitzenden und unzählige Mitglieder und Aktivist/innen. Rund die Hälfte von Ihnen sind Frauen. Um die Gefangenen kümmert sich ein ganzes Team von Anwälten, wobei ihre Möglichkeiten stark eingeschränkt sind: Die erhobenen Vorwürfe entbehren oft jeder Rechtsgrundlage, unter Folter erzwungene Aussagen werden verwendet, politische Gefangene ohne Mitteilung in andere Gefängnisse verlegt, um Besuche durch die Familie zu erschweren, selbst der Kontakt zu Anwälten wurde auf 45 Minuten in der Woche beschränkt – unter Überwachung. Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen und Folter sind an der Tagesordnung.
Jedes Gefängnis ist um das drei- bis fünffache überfüllt, Zellen für 10 bis 15 belegt mit 30, 40 Gefangenen. Um weitere Kapazitäten zu schaffen, werden riesige Lager in der Größe von Kleinstädten gebaut. Die Willkür und Gewalt mit der die Türkische Regierung gegen ihre Gegner vorgeht ist in ihrer Härte und Ausmaß unfassbar.

Proteste vor einem Frauengefängnis in Istanbul-Bakirköy

In einer ganzen Reihe der Gefängnisse befinden sich inhaftierte HDP-Aktivisten im Hungerstreik gegen unerträgliche Haftbedingungen, seit Freitag auch der Co-Vorsitzende Selahattin Demirta?. Der längste Hungerstreik erreichte am 31.3. die kritische Marke von 45 Tagen, ab der mit langfristigen gesundheitlichen Schäden zu rechnen ist. Eintausend Unterstützerinnen und Unterstützer zeigten auf der Presseaktion anlässlich Demirta? beginnendem Hungerstreik ihre Solidarität mit den inhaftierten Freundinnen und Freunden vor einem Frauengefängnis in Istanbul-Bakirköy.
Besonders von Repression betroffen sind politisch engagierte Frauen. In den türkischen Gefängnissen sitzen vielerorts auch Babys und Kleinkinder bis fünf Jahre, deren Mütter verhaftet wurden – ohne kindgerechte Versorgung.

Infostand der „Nein“-Kampagne der HDP in Bakirköy

Trotz allem waren fast alle, die ich in den vergangenen zwei Tagen treffen konnte, voller Mut und Zuversicht. Umfragen prognostizieren ein mindestens knappes Ergebnis – Zeichen der sinkenden Zustimmung für Erdogan und seine AKP. Erdal Atas meint, dass inzwischen 60% der Bevölkerung gegen Erdogan seien. Die Türkei habe viele Probleme: Arbeitslosigkeit, Armut, Ungerechtigkeit. Der Mindestlohn betrage gerade einmal umgerechnet $350. Erdogan habe sich mit zu vielen Menschen und Gruppen in der Gesellschaft angelegt, außerdem gebe es zunehmende Opposition innerhalb der AKP. Er ist zuversichtlich, dass Erdogan bald gehen müsse. In jedem Fall stehe eine chaotische und riskante Zeit bevor.
Neben der HDP engagieren sich eine Vielzahl anderer Parteien und Organisationen für ein „Nein“ beim Referendum. Auf einer Pressekonferenz warben heute Vertreter von Richter/innen, Anwält/innen, Journalist/innen, Wissenschaftler/innen Aktivistinnen und Aktivisten für Ihre „Nein“-Kampagne. In Istanbul und anderen Städten gibt es überall lokale Nachbarschaftsgruppen, die sich für ein „Nein“ engagieren und unzählige Gespräche vor Ort führen – und sich damit der „Ja“-Kampagne der Regierung entgegenstellen, die jede Neutralität staatlicher Institutionen fallen gelassen hat und sich Staatsgelder, Regierungsgebäude und sogar Polizeibeamte zu nutze macht.
 

Die Stände der „Ja“ und „Nein“-Kampagne stehen in Bakirköy an einem zentralen Platz. Im Wechsel spielen AKP, MHP, CHP und HDP ihre Musik.

Die Auftrittsverbote für türkische Minister in den Niederlanden und Deutschland werden von allen, mit denen ich darüber spreche, kritisch gesehen. Bei aller Kritik an Erdogan sind Verbote nicht die Lösung. In Reaktion auf die Verbote von Ministerauftritten hätte das Lager der AKP aber eher noch einen Schub in den Umfragen bekommen, denn Erdogan nutzt alles für seine Propaganda. Der Missbrauch von Botschaften und Konsulaten für Stimmungsmache der Regierungspartei sei das akute Problem.
Eine faire Abstimmung wird nicht erwartet. So werden bereits jetzt Vertreter/innen der HDP in den Wahlkommissionen, auf die eigentlich ein Recht besteht, nicht zugelassen.
Ich kehre zurück voller Respekt für die Entschlossenheit und den Mut der Freundinnen und Freunde der HDP und aller anderen in der Nein-Kampagne.
Wichtig werden internationale Wahlbeobachter zum Referendum. Vor allem sind jetzt internationale Aufmerksamkeit über die Menschenrechtsverstöße und Solidarität im Angesicht der Repression gefragt.
Immer wieder denke ich an die Worte von Ayse Berktay aus Istanbul, Mitglied der Versammlung der HDP, die selbst zweieinhalb Jahre Haft für ihr politisches Engagement hinter sich hat:

„Die Regierung will die HDP nicht verbieten, aber sie am Funktionieren hindern. Es liegt an uns, die Mentalität zu bekämpfen, die hinter den Angriffen und Verhaftungen steht. Wir werden weiter arbeiten, auch wenn wir dafür ins Gefängnis gehen.“