Seit Mitte Oktober tobt die Schlacht um Mossul. Im Juni 2014 war die Millionenstadt im Norden des Iraks nahezu widerstandslos in die Hände des „Islamischen Staats“ (IS) gefallen. Seitdem haben die US-Luftstreitkräfte und ihre Verbündeten über 50.000 Bomben auf den Irak und Syrien abgeworfen. Die Medien verbreiten, nun würde die Befreiung vom Terror in greifbare Nähe rücken. Das ist eine trügerische Hoffnung.
„Oh doch, es gibt gute und böse Bomben!“, titelte die BILD-Zeitung am 26. Oktober. Mossul sei nicht gleich Aleppo. Anders als die russischen Streitkräfte in Syrien würde die US-geführte Kriegskoalition im Irak lasergesteuerte Bomben verwenden, die „präzise“ gegen militärische? Ziele eingesetzt werden und so die Zivilbevölkerung schonen. Das ist nichts als Kriegspropaganda. Am 26. Oktober gab Amnesty International einen Bericht heraus, der auf Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen elf verschiedene US-geführte Luftangriffe im nördlichen Syrien untersuchte. Dabei kamen rund 300 Zivilisten um. Tatsächlich werden die Bomben auf Mossul, genauso wie in Aleppo, die Stadt zerstören und Tausende von Menschenleben fordern.
Der BILD-Kommentar ist der zugespitzte Ausdruck einer Medienberichterstattung, die von einem einseitigen Blick auf die Schlacht um Mossul geprägt ist. Aus Aleppo werden vor allem Bilder verbreitet, die der zivile Widerstand mit Handykameras in Netz stellt. Es sind Bilder von Trümmern, aus denen Menschen und Leichen geborgen werden. Viele Berichte aus dem eingeschlossenen Aleppo zeigen den Krieg aus der Perspektive der betroffenen Zivilbevölkerung.
Bild vom sauberen Krieg ist ein Mythos
Aus und um Mossul sehen wir den Krieg durch die Augen der angreifenden Truppen. Wenn die internationalen Korrespondenten an die Front fahren, dann sind sie „eingebettet“ bei den kurdischen Peschmerga oder den von US-Truppen ausgebildeten „Antiterror-Einheiten“ der irakischen Armee. Wer sich dem entziehen will, ist Repressalien ausgesetzt. So wurde der unabhängige japanische Journalist Kosuke Tsuneoka von Peschmerga verhaftet und verhört. Grund: Er ließ sich nicht einbetten und berichtete hinter der Frontlinie unbehelligt von der Zensur der Militärs. Auch Korrespondenten der arabischen Satellitensender Al-Arabiya und Al-Dschasira wurden pauschal ausgewiesen.
Das Bild vom sauberen und gerechten Anti-Terror-Krieg ist ein Mythos. So dokumentierte Amnesty International am 2. November die Übergriffe Bagdad-treuer sunnitischer Milizen, die nach der Befreiung von Dörfern im Umland von Mossul als Vergeltungsmaßnahme Einwohner misshandelten, in Käfigen ausgestellt und auf Motorhauben gebunden durch den Ort gefahren haben.
Davon lesen wir nichts in BILD. Ebenso wenig wie von den Übergriffen der kurdischen Regionalregierung, die in Kirkuk stattfanden. Laut Human Rights Watch wurden dort an zwei Tagen im Oktober mindestens 325 Familien von den Peschmerga gewaltsam aus der Stadt vertrieben und mehr als 100 Häuser zerstört. Ihr einziges Verbrechen: Es handelte sich um arabische Familien. Viele von ihnen haben in Kirkuk seit vielen Jahrzehnten gewohnt, manche waren zuvor vor dem IS aus der Stadt Hawidscha geflohen.
Irak steht als einheitlicher Staat nur noch auf dem Papier
Gerade dieser Bericht wirft ein Schlaglicht auf die Realität des Krieges. Die Kontrolle über die Großstadt Kirkuk und die in der Region lagernden Ölvorkommen waren lange zwischen der schiitisch-dominierten Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Erbil umstritten. Als der Krieg gegen den IS ausbrach, nutzte die kurdische Seite unter Präsident Barsani die Schwäche des Regimes in Bagdad aus und ließ kurzerhand Peschmerga nach Kirkuk einrücken. Seitdem ist die Stadt „kurdisch“. Die Vertreibungen arabischer Familien im Oktober folgen dieser Logik. Der so genannte Krieg gegen den Terror war und ist am Boden ein Kampf um Territorien, Öl und politischen Einfluss.
Irak steht als einheitlicher Staat nur noch auf dem Papier. Verantwortlich dafür sind die US-Invasion von 2003 und das folgende Besatzungsregime. Unter Verantwortung von US-Gouverneur Bremer wurde damals ein System eingeführt, wonach alle Posten im Staatsapparat vom Präsident angefangen entweder Schiiten, Sunniten oder Kurden zugeteilt wurden. Vor der US-Invasion war es durchaus üblich, dass es durch Heirat zur Vermischung von Schiiten und Sunniten kam. Heute schirmen meterhohe Mauern schiitische und sunnitische Stadtteile in Bagdad voneinander ab. Die Teile-und-Herrsche-Politik der US-Besatzer hat das Land auseinandergerissen.
So gelang es einer kleinen korrupten Minderheit um den schiitischen Premierminister Maliki das Land zur eigenen Beute zu machen. Zehntausende Sunniten verloren ihre Jobs als Lehrer oder Beamte. „Al-Qaeda im Irak“, der Vorläufer des IS, machte sich das zunutze und verband den Widerstand gegen die US-Besatzungsmacht mit einem Krieg gegen alle Schiiten. Sie führten Anschläge auf Marktplätzen in schiitisch geprägten Städten und gegen schiitische Heiligtümer durch.
Dem IS stehen radikal-schiitische Milizen gegenüber, die ihrerseits vom Geist des Rassismus gegen alle Sunniten erfüllt sind. Der Korrespondent Ghaith Abdul-Ahad illustrierte die Logik dieses Kampfes in einem Bericht für den britischen Guardian. Er zitiert einen schiitischen Milizionär: „Wenn ich ein Gebiet vom Islamischen Staat befreie, warum sollte ich es ihnen zurückgeben? Entweder lösche ich es aus oder lasse Schiiten darin siedeln.“
Malikis Nachfolger, Premierminister Abadi, hatte vor diesem Hintergrund im vergangenen Februar angekündigt, dass diese Milizen nicht an der Schlacht um Mossul teilnehmen sollen. Das war ein leeres Versprechen. Die Volksmobilisierung rückt im Westen von Mossul auf die Stadt vor. Bereits die ersten Meldungen lassen das Schlimmste befürchten. Flüchtende aus Mossul müssen Checkpoints von Armee oder Milizen passieren, die für Sunniten Verhaftung oder Tod bedeuten können. Der Journalist Belkis Willie berichtete Anfang November in Foreign Policy von Tausenden Männern und Jungen, die bereits von irakischen Sicherheitskräften unter dem fadenscheinigen Vorwurf der Zugehörigkeit zum Islamischen Staat festgenommen wurden und seitdem verschwunden sind.
Bombenkrieg begünstigt Ausweitung des Terrors
Bevor der IS im Jahr 2014 Mossul eroberte, hatte sich die Bundesregierung wie alle anderen westlichen Regierungen überhaupt nicht für das Schicksal der Irakis interessiert. Das damalige Maliki-Regime wurde von den USA aufgerüstet, obwohl es in den Jahren 2013 und 2014 mit der Armee gegen friedliche Protestierende vorging, Krankenhäuser mit Artillerie beschießen ließ und sunnitische Politiker hat umbringen lassen. Als dann die von Korruption zersetzte irakische Armee im Sommer 2014 bei Mossul binnen Stunden auseinanderfiel, konnte der IS die Ausrüstung von 30.000 geflohenen Soldaten erbeuten. Seitdem bombardieren die US-Streitkräfte das Land und versuchen das militärische Gerät zu zerstören, was sie zuvor selbst an den Irak geliefert haben.
Dieser Bombenkrieg hat die internationale Ausbreitung des Terrors begünstigt und dem IS neue Anhänger gebracht. Anfang 2014 wurde die Stärke des damaligen IS-Vorläufers auf 3000 Kämpfer geschätzt. Im Sommer 2016 behauptete das Pentagon, in zwei Jahren Bombenkrieg 25.000 IS-Kombattanten getötet zu haben. Zählt man noch die Tausende hinzu, die in Mossul, Rakka und anderswo ausharren und Widerstand leisten, ist es zu mehr als einer Verzehnfachung des Kämpfer des IS gekommen – gemessen nach den offiziellen Angaben aus Washington.
Dafür kann es nur zwei Gründe geben: Entweder werden getötete Zivilisten zu Kombattanten umdefiniert. Oder der Bombenkrieg treibt dem IS immer neue Anhänger zu. Wahrscheinlich ist beides ist der Fall.
Die Bundesregierung verweigert jede Auskunft darüber, welche Ziele die Bomber treffen, die die Bundeswehr seit einem Jahr im Einsatz betankt hat. Auch gibt sie vor nicht zu wissen, was mit den Bildern passiert, die die Aufklärungstornados der Bundeswehr schießen. Die Bundestagsabgeordneten, die der Verlängerung des Einsatzes bedenkenlos zustimmen, scheinen sich dafür ebenfalls nicht zu interessieren.
Das Umschlagen des Bürgerkriegs in einen regionalen Krieg droht
Selbst wenn der IS in Mossul zusammenbricht, weiß niemand, was danach kommt. Es gibt keinerlei Vereinbarung darüber, wer die Stadt beherrschen soll. Die so genannten Verbündeten werden nur durch den gemeinsamen Feind, den IS zusammengehalten. Ansonsten aber befinden sie sich in direkter Rivalität und versuchen, Territorien zu erobern. In der multiethnischen Stadt Tuz Khormatu ist es vor diesem Hintergrund in den letzten Monaten zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit dutzenden Toten gekommen: Nicht zwischen dem IS und seinen Gegnern, sondern zwischen turkmenischen, arabischen und kurdischen Kräften. Schon ist von der Teilung Mossuls und der umgebenden Provinz Niniveh die Rede, in christliche, turkmenische, jesidische, schiitische und sunnitisch dominierte Distrikte.
Die Einmischung von außen verschärft dieses Problem. Bereits jetzt sind neben den rund 5000 US-Soldaten auch 2000 türkische Soldaten am Boden in der Region stationiert. Präsident Erdogan ließ demonstrativ Panzer an der Grenze auffahren. Er fordert die Beteiligung der türkischen Truppen an der Schlacht, um dauerhaft einen Fuß in die ölreiche Region zu bekommen. Der irakische Premier Abadi, unterstützt von den USA und Iran, forderte die Türkei zum Rückzug auf und drohte Erdogan seinerseits mit Krieg. Sollte es zu einem Sieg über den IS kommen, dann droht das Umschlagen des Bürgerkriegs in einen regionalen Krieg. Diese Schlacht bereitet den nächsten Krieg vor.
Angesichts der komplizierten Lage und dem Schrecken, den der IS verbreitet, hoffen manche auf einen schnellen Sieg der internationalen „Anti-Terror-Koalition“. Ein Blick zurück zeigt, wie trügerisch diese Hoffnung ist. Vor 15 Jahren intervenierte die NATO in Afghanistan. Die Taliban und die auf afghanischem Gebiet befindliche Al-Qaida wurden in genau demselben Licht gezeichnet wie heute der IS.
An der Seite der US-Streitkräfte wurde die Bundeswehr in den ersten großen Kampfeinsatz geschickt. Was wurde nicht alles versprochen: Frauenbefreiung, Demokratie, Entwicklung. Doch 15 Jahre später hat Afghanistan trotz Einsatz Hunderttausender Soldaten und Milliarden von US-Dollar nicht zu Demokratie, Frauenrechten oder Demokratie gefunden, geschweige denn zum Frieden. Stattdessen sind die Taliban, die in der Bevölkerung zu Beginn des Kriegs weitgehend verhasst waren, heute so stark wie nie zuvor seit 2001.
Die Logik des Konflikts durchbrechen
Denn die vermeintliche Medizin ist in Wirklichkeit Teil des Problems. Der Anti-Terror-Krieg ist selbst nichts anderes als Terror. Wenn imperialistische Mächte mit ihren ganz eigenen Interessen intervenieren und Bomben auf Aufständische werfen, dann treffen sie nicht nur Kombattanten. Sie treffen Väter und Söhne, aber auch Frauen und Kinder. Jeder imperialistische Krieg hat in der Vergangenheit den Aufstand geschürt, den er bekämpfte.
Die Schlacht um Mossul wird die Stadt zerstören. Sie droht tausende Unschuldige umzubringen und eine Massenflucht auszulösen, insbesondere unter der sunnitischen Bevölkerung. Das wird Elend, Hass und Verzweiflung schüren. Neue Formationen wie der IS werden auf dieser Grundlage einen Nährboden finden. Entgegen den Versprechungen wird so die Gefahr von Terroranschlägen in Europa nicht sinken.
Eine solche Politik darf von deutscher Seite nicht unterstützt werden, weder militärisch noch politisch. Stattdessen sollten Maßnahmen durchgeführt werden, die die Logik des ethnisch-konfessionellen Konflikts durchbricht und auf diese Weise der Propaganda des IS entgegenwirken. Dazu gehört der Rückzug der Bundeswehr aus dem Kriegsgebiet, der Stopp aller Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet, so wie der Kampf gegen Islamfeindlichkeit im eigenen Land und die Gewährung von Asyl für Kriegsflüchtlinge.