Die AfD streitet über den Umgang mit dem Antisemiten Wolfgang Gedeon. Doch der Fall Gedeon ist kein Betriebsunfall. Antisemitismus ist längst fester Bestandteil der AfD. Der Kern des Streits innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD) ist ein hochpolitischer und existenzieller: nämlich die Frage, wie die Partei mit dem Thema Antisemitismus und Rassismus umgeht. 
Dieser Artikel von Volkhard Mosler und mir erschien am 26.7.2016 in Neues Deutschland
»Grenzüberschreitung kann ins politische Aus führen und Antisemitismus ist eine solche Grenzüberschreitung.« Mit diesen Worten verteidigte Alexander Gauland vom AfD Bundesvorstand den Bruch mit dem Antisemiten Wolfgang Gedeon. Der »Fall Gedeon« hat sich in wenigen Wochen zu einer handfesten Krise der AfD-Bundespartei entwickelt. Im Zentrum der Krise steht ein Führungsstreit zwischen Frauke Petry und Jörg Meuthen, dem Bundesvorsitzenden und ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der AfD-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg um die mögliche Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl 2017. Darum mag es auch gehen, allerdings ist der Kern des Streits ein hochpolitischer und existenzieller Streit: nämlich die Frage, wie die Partei mit dem Thema Antisemitismus und Rassismus umgeht.
Meuthen tritt für eine Position der Unvereinbarkeit von offenem Antisemitismus und AfD-Mitgliedschaft ein und hat es deshalb auf den Bruch mit jenen ursprünglich zehn Abgeordneten in seiner Landtagsfraktion ankommen lassen, die sich wiederholt gegen einen Ausschluss Gedeons aus der Fraktion ausgesprochen und die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit blockiert hatten.
Petry sprach sich gegen einen sofortigen Ausschluss von Gedeon aus und konnte sich mit ihrem Vorschlag zunächst durchsetzen, eine wissenschaftliche Kommission einzuberufen. Nachdem zwei von Meuthen beauftragte Gutachter unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen waren, dass Gedeons Äußerungen als antisemitisch zu bewerten seien, stellte sich Petry weiter auf die Seite der Gedeon-Verteidiger. Sie hat den Ausschluss Gedeons nach Kräften verhindert und seine antisemitischen Äußerungen (»normal in einer jungen Partei«) verharmlost. Damit kommt sie all jenen entgegen, die unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit der Wissenschaft antisemitische Positionen legitimieren und »diskursfähig« machen wollen. Petry steht mit ihrer Duldungsposition nicht allein. Nach verschiedenen Stimmungsberichten aus der Partei gäbe es für ihren Versuch, die Einheit auf Kosten einer klaren Trennung vom Antisemitismus zu bewahren, in den Landesverbänden und in großen Teilen der Mitgliedschaft große Sympathien.
Politisch verteidigt wird Gedeons Antisemitismus von Teilen des neofaschistischen »Flügels« unter Führung von Björn Höcke. Dieser hatte im Dezember 2015 eine Broschüre Gedeons mit eindeutig antisemitischen Positionen ausdrücklich gelobt und zur Lektüre empfohlen. In dieser bisher unveröffentlichten Broschüre (»Grundlagen einer neuen Politik über Nationalismus, Geopolitik, Identität und die Gefahr einer Notstandsdiktatur«, 56 S.) behauptet Gedeon, dass es seit 1989 zu einer »Amerikanisierung im Westen« gekommen sei, die auf eine »faktische Annexion durch die USA« hinauslaufe. Dieser neue Amerikanismus sei »der alte jüdische Glaube vom neuen irdischen Jerusalem«. Gedeon knüpft mit dieser These bruchlos an Hitlers Warnung vor einer Weltherrschaft des Judentums durch ein »internationales Finanzkapital« an.
Ein klarer Trennungsstrich zum Antisemitismus ist nur zum Preis einer Spaltung zu haben
Meuthens Forderung nach einem klaren Trennungsstrich zum Antisemitismus ist nur zum Preis einer Spaltung des konservativ-nationalen vom neofaschistischen Flügel zu haben. Dafür ist der Einfluss des »Flügels« aber schon viel zu groß, auch das zeigt die Stuttgarter Farce. Insofern kommt die Warnung des stellvertretenden Vorsitzenden der AfD Baden-Württemberg Marc Jongen schon zu spät, dass »sich das Gift des Judenfeindschaft durch alle ihre Positionen .. hindurch fressen wird«, wenn die Partei es zulasse, »dass das deklariert antisemitische Weltbild eines Wolfgang Gedeons Teil ihres akzeptierten Meinungsspektrums wird«. Der Antisemitismus ist längst fester Bestandteil der AfD, nämlich ihres faschistischen »Flügels«, auch wenn sich alle einig zu sein scheinen, dass jetzt der Kampf gegen die »Islamisierungsgefahr« Vorrang hat. Im Rahmen einer Kampagne gegen den Bau einer Moschee in Erfurt äußerte sich Höcke gegenüber einem Fernsehsender: »Wenn orthodoxe Juden zu Tausenden einwanderten, hätten wir das Problem auch.« (»FAZ« vom 02.06.2016) Ein weiteres Beispiel ist die Wahl des wegen Antisemitismus aus der hessischen CDU ausgeschlossen Martin Hohmann zum Direktkandidaten der AfD in Fulda.
Mit dem Scheitern Luckes, die Öffnung der Partei durch die Höckes und Poggenburgs zu Pegida und »Neuen Rechten« zu verhindern, hat der neofaschistische Flügel in mehreren Landesverbänden die Führung übernommen und ist auch im Bundesvorstand mit mehreren Mitgliedern vertreten. Die Versuche von Petry, mit Beschlüssen des Bundesvorstandes (Auflösung der saarländischen AfD, Nicht-Kooperationsbeschluss gegenüber Pegida, angestrebter Beschluss zur Unvereinbarkeit von gleichzeitiger Mitgliedschaft in der Identitären Bewegung und der AfD/Junge Alternative) das weitere Vordringen der Nazi-Szene in die AfD zu verhindern, sind dagegen bisher allesamt gescheitert. Petry hat mit dem von ihr im Bündnis mit Gauland und Höcke betriebenen Sturz von Lucke auf dem Essener Parteitag 2015 dem Neonazi-Flügel selbst den Weg freigekämpft.
Innerhalb des neofaschistischen Flügels ist es allerdings über die Affäre Gedeon zur scharfen Auseinandersetzungen gekommen. Alexander Gauland und die »Junge Freiheit« haben sich auf die Seite Meuthens und gegen die Tolerierungslinie von Petry gestellt. Höcke hat sich dagegen auf deren Seiten geschlagen: »Unsere Partei und auch die Fraktion in Baden-Württemberg braucht jetzt Zeit für sich und dürfen sich nicht in die Rolle des Getriebenen drängen lassen.«  Götz Kubitschek, Herausgeber des Magazins »Sezession«, und Stichwortgeber der faschistischen Identitären Bewegung schrieb, es gehe im Fall Gedeon »um tabubewehrte Zonen wie die weltgeschichtliche Bedeutung des Judentums, des Zionismus oder der Holocaustindustrie«. Die Partei habe sich im Fall Gedeon beeinflussen lassen von »selbsternannten Beratern mit weltanschaulichem Hygienefimmel«.
Der Fall Gedeon ist kein Betriebsunfall
Der Streit um den Umgang mit Antisemitismus in der AfD verweist auf ein grundsätzliches Problem faschistischer Bewegungen nach Auschwitz, besonders des deutschen und österreichischen mit Nazitradition. Der Vorsitzende der Deutschen Reichspartei (Vorläuferin der NPD) Wilhelm Meinberg sagte 1960 nach einer Welle von Hakenkreuzschmierereien an Synagogen und jüdischen Grabsteinen: »Wir werden nicht nur jeden rausschmeißen, der die Synagogen beschmiert, sondern auch solche, die antisemitische Äußerungen in unser Partei machen.« Die NSDAP und ihre Gliederungen hatten bei Kriegsende noch über 10 Millionen Mitglieder. Die große Mehrheit wandte sich desillusioniert von der »Partei« ab, trotzdem ist Nazi- Tradition in Deutschland und Österreich meist unterschwellig, oft genug auch offensichtlich in Parteien, diversen Vereinigungen und Netzwerken massenhaft lebendig geblieben. Deshalb ist der Fall Gedeon kein Betriebsunfall. Wo immer der Faschismus in Deutschland (und Österreich) auftritt, wird er früher oder später mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, werden seine geistigen und politischen Führer den Holocaust relativieren, leugnen oder im kleinen Kreis sogar legitimieren.
Im Stuttgarter Landtag haben Redner von CDU, SPD, Grünen und FDP Meuthen zu Recht vorgeworfen, dass seine Distanzierung vom Antisemitismus rein taktischer Natur sei. Gedeon selbst verbreitet unwidersprochen die Behauptung, Marc Jongen und Meuthen hätten schon lange vor dem Eklat seine Positionen gekannt. Marc Jongen habe aber »mit keinem Wort vor meiner «irrationalen Judenfeindschaft» gewarnt.« sagt Gedeon. Auch die Argumente der Verfechter eines sofortigen Ausschlusses weisen auf deren rein taktische Motivation hin. So schreibt Marc Jongen, es sei »Undenkbar, gewisse grundgesetzwidrige Erscheinungsformen des Islams in Deutschland noch glaubhaft in die Schranken zu weisen mit einem Wolfgang Gedeon im Hintergrund, der den Islam in engste Verbindungen zum «Judaismus» bringt und im Kampf gegen beides die große Kontinuität des christlichen Abendlandes sieht.« Ähnlich argumentieren Gauland und Meuthen. Im Interesse der höheren Durchschlagskraft ihrer islamfeindlichen Hetzkampagnen muss der Antisemitismus in den eigenen Reihen unterdrückt werden.
Selbst ein Gedeon brachte es fertig, im Stuttgarter Landtag Antisemitismus abzustreiten und vor Antisemitismus zu warnen, »der durch muslimische Flüchtlinge ins Land« komme. Sein Fraktionskollege (und heutiger Meuthen-Anhänger) Daniel Rottermann sekundierte damit, dass er seine Jacke auszog und sich mit einem bedruckten T-Shirt demonstrativ neben Gedeon stellte. Darauf war zu lesen: »I love Israel«.
Es ist illusionär zu hoffen, dass die AfD sich selbst zerlegt
Eine lauthals dokumentierte Freundschaft zu Israel und zum Zionismus gehört inzwischen zum Alltagsrepertoire der meisten europäischen Faschisten- und Rassistenführer. Karl-Heinz Strache (FPÖ), Marine Le Pen (FN) oder Geert Wilders (Freiheitliche/Niederlande) sind inzwischen alle in Israel gewesen, sie hoffen so, aus dem Schatten des Holocaust heraus zu treten. Straches FPÖ unterstützt zugleich antisemitische Zeitschriften wie »Die Aula«.
Die AfD ist geeint in ihrer Agitation gegen Muslime, sie ist gespalten über das taktische Verhältnis zum Antisemitismus. Der Versuch Luckes und seiner heutigen Nachfolger wie Meuthen eine national-konservative und zugleich rassistische Partei nach dem Modell von UKIP (Großbritannien) einzuleiten, ist am größeren spezifischen Gewicht der neofaschistischer Kräfte in Deutschland gescheitert. Und es ist ein Ausdruck der Stärke des neofaschistischen Flügels innerhalb der AfD, dass Petry jetzt dem Antisemitismus die Tür offen hält.
Die sinkenden Umfragewerte der AfD zeigen, dass die AfD besiegbar ist. Aber es wäre illusionär zu hoffen, dass sie sich selbst zerlegt. Eine machtvolle antirassistische und antifaschistische Bewegung ist notwendig, um die AfD zu schwächen und die Spaltungstendenzen zu beschleunigen.
 
Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Volkhard Mosler ist Diplom-Soziologe und Mitglied der LINKEN Frankfurt am Main.