Bundeswehr in Afghanistan: Abziehen statt aufstocken! Ein Beitrag von mir für die kommenden Ausgabe der Zeitschrift Disput

Die Bundesregierung steht in Afghanistan vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik. Über zehn Jahre kämpfte die Bundeswehr an der Seite anderer NATO-Staaten, mandatiert von CDU/CSU, SPD und Grünen. Stationiert blieb sie im verhältnismäßig ruhigen Norden des Landes, was die eigenen Verluste reduzierte. Auch über tote Afghanen war in dem Zusammenhang in den deutschen Medien fast nie etwas zu lesen. Die Ausnahme war der Lufteinsatz im September 2009 bei Kundus, als ein Bundeswehroffizier den Angriff gegen zwei steckengebliebene Benzinlaster befahl und dabei über 100 Zivilisten zu Tode bombardieren ließ.
Ansonsten war Kundus das Symbol für einen Einsatz, der angeblich unter dem Schutz der bewaffneten Streitkräfte den Aufbau des Landes vorantrieb. Die Bundeswehr etablierte Feldlager unter der Bezeichnung »PRT – Provincial Reconstruction Teams«. Nach zwölf Jahren Kampf, so die offizielle Version der Bundesregierung, war die Arbeit Ende 2014 so weit vorangeschritten, dass »die« Afghanen sich nun selbst regieren könnten. Seitdem beschränkt sich der Bundeswehreinsatz im Wesentlichen auf eine Mission zur Ausbildung und Beratung afghanischer Streitkräfte, unter der Bezeichnung »Resolute Support Mission « (RSM). Über die Aktivitäten des Kommandos Spezialkräfte (KSK), das nach wie vor in Afghanistan operiert, macht die Bundesregierung keinerlei Angaben. Der Eindruck entstand: Der Krieg ist vorbei. In den Medien wird kaum noch über Afghanistan berichtet.
Und dann das: Am 28. September haben »regierungsfeindliche Kräfte« Kundus innerhalb weniger Stunden erobert! Die Übernahme dieser strategisch wichtigen Stadt mit 300.000 Einwohnern, hunderte Kilometer von ihren Hochburgen im Süden des Landes entfernt, stellt den größten militärischen Erfolg der Taliban seit 2001 dar. Die Bundesregierung reagierte reflexhaft: Das bestehende Mandat der Bundeswehr soll nun nicht mehr wie geplant langsam auslaufen, sondern weiter verlängert werden. Der deutsche NATO-Kommandeur Domröse ging einen Schritt weiter und sprach sich für die Ausweitung des Bündniseinsatzes aus. Er nannte die Beteiligung an Luftangriffen gegen die Taliban eine »sinnvolle Option«. Diese Forderung läuft auf nichts anderes als den Wiedereinstieg in offene Kampfoperationen durch die Bundeswehr hinaus, an der Seite der amerikanischen Truppen.

Was diese Option praktisch bedeutet, hat die Rückeroberung von Kundus gezeigt. Unter Einsatz amerikanischer Luftunterstützung konnten afghanische Spezialkräfte zwar nach langem Kampf die Kontrolle über Kundus weitgehend wiederherstellen. Doch der Preis war hoch: In der Nacht zum 3. Oktober kam es zur kompletten Zerstörung eines – von der NGO »Ärzte ohne Grenzen« betriebenen – Krankenhauses in der Stadt.
 
Es gibt keine unabhängige Untersuchung über den Angriff. Aber ein paar Fakten sind klar: Das Krankenhaus wurde aus einem langsam und tief fliegenden US-Militärflugzeug in fünf Angriffsintervallen über die Dauer von etwa einer Stunde gezielt unter Feuer genommen. Insgesamt 30 Personen kamen um, darunter mindestens 12 Ärzte und drei Kinder. Patienten verbrannten in ihren Betten, über 30 wurden verletzt.
 
Der Einsatz war von Sondereinsatzkräften der US-Armee angefordert worden, den sogenannten »Green Berets«. Laut US-Medien würden Dokumente beweisen, dass sowohl dem US-Heer, als auch der US-Luftwaffe klar war, dass es sich um ein voll funktionsfähiges Krankenhaus handelte.
 
Die Begründung für den Angriff: das Krankenhaus hätte als Operationsbasis für bewaffnete Taliban gedient. Ein Vorwurf, den die »Ärzte ohne Grenzen« kategorisch verneinen. Es sind auch bislang keine Bilder durch das Pentagon veröffentlicht worden, die dies belegen würden. Während der Angriffe haben die »Ärzte ohne Grenzen« Regierungsstellen in Kabul und Washington telefonisch alarmiert, vergeblich.
 
Der Angriff hat nicht nur das letzte funktionsfähige Krankenhaus in Kundus zerstört. Er hat auch deutlich gemacht, dass jeder militärische Sieg einer Fremdmacht wie der USA zugleich immer wieder neue Gegner schafft. Was werden diejenigen Menschen machen, die Angehörige im Krankenhaus verloren haben? Die »Befreiung« von Kundus durch afghanische Spezialtruppen und US-Bomben hat mehr Menschen das Leben gekostet, als die Eroberung der Stadt durch die Taliban.
 
Borhan Osman vom »Afghanistan Analysts Network« unterstreicht: »Die Taliban sind zäh. Sie geben nicht auf. Und sie können ihre Verluste mit neuen Männern ausgleichen. … Ich habe einige Kämpfer im Süden Afghanistans getroffen. Junge Männer, die dritte Generation. Sie sind motiviert. Sie rekrutieren ständig. Und das, obwohl kein Sieg in Sicht ist.«
 
Dem steht eine schlechte Kampfmoral derjenigen gegenüber, die die bestehenden Machtstrukturen verteidigen sollen. Deutsche Quellen aus der Führung der RSM verzeichneten im September pro Woche einen Verlust von 200 Mann unter den afghanischen »Sicherheitskräften«, sei es durch Tod oder Desertion.
 
Es ist diese schlechte Kampfmoral, die es einigen hundert Taliban erlaubte, eine Großstadt im Handstreich zu übernehmen, in der Tausende Soldaten der afghanischen Streitkräfte stationiert waren. Alle Berichte deuten darauf hin, dass diese Soldaten nicht gekämpft haben. Lediglich Polizeikräfte hätten sich den Taliban in den Weg gestellt.
 
Die mangelnde Kampfmoral lässt sich auch nicht durch mehr Ausbildung beseitigen. Denn sie wird aus politischen und sozialen Motiven gespeist. Die Soldaten der regulären Armee sind unterbezahlt und ohne Perspektive. Die Macht in der Provinz Kundus konzentriert sich in den Händen sogenannter Warlords. Deren Milizen, so meldet die UN-Nachrichtenagentur IRIN, hätten in der Vergangenheit Zivilisten überfallen und erpresst sowie ihren Besitz gestohlen. Warum sollten die Soldaten ihr Leben riskieren, um Leute an der Macht zu halten, die wie die Mafia regieren?
 
Die zeitweilige Einnahme der Stadt Kundus durch die Taliban ist Ausdruck einer Verschiebung des militärischen Kräftegleichgewichts. Auch im vermeintlich sicheren Norden entgleiten den afghanischen Streitkräften und dem internationalen Militärbündnis offenbar zunehmend Gebiete der Kontrolle. Aus dem deutschen Einsatzkontingent heißt es, der Nordwesten, der Korridor zwischen Kundus und Baghlan sowie Zentral-Badakhshan würden von regierungsfeindlichen Kräften »geprägt«, und ihr Einfluss nehme weiter zu. Am 9. April diesen Jahres kam es zu einem Angriff auf die Staatsanwaltschaft in Mazar-e-Sharif mit vielen Toten, am 24. April zu einem Raketenbeschuss auf Camp Marmal, wo das Hauptkontingent der Bundeswehr stationiert ist.
 
Die US-Regierung setzt vor diesem Hintergrund seit Monaten verstärkt auf Kampfoperationen. Der geplante Abzug aus Afghanistan rückt in immer weitere Ferne. So treibt die US-Regierung die eigenen Truppen immer tiefer in einen nicht enden wollenden Krieg. Dies mag die korrupte Zentralregierung länger im Amt halten, doch zugleich wird der Konflikt eskaliert und die zugrundeliegenden sozialen und politischen Probleme vertieft.
 
Die Bundesregierung will im Windschatten der US-Armee in Afghanistan weiter militärisch mitmischen. Wie weit sie sich am Ende in den Krieg neu hineinziehen lässt, ist ungewiss. Gefährlich ist dieses Vorgehen allemal. Es macht deutsche Entwicklungshelfer und einheimische Mitarbeiter zu Zielscheiben von Vergeltungsaktionen. Zumal Deutschland weiter daran beteiligt ist, Personen auf die Todeslisten des amerikanischen Drohnenprogramms zu setzen. Diese Verstrickung in den »Anti-Terror-Krieg«, der selbst auf nichts anderem als der Ausübung von Terror beruht, macht die Situation hierzulande unsicherer, nicht sicherer.
 
14 Jahre Krieg in Afghanistan verdeutlichen, dass die Taliban nicht auf militärischem Wege geschlagen werden können. Wenn Drohnen, Hubschrauber und Kampfflugzeuge Tod bringen, dann werden Menschen Widerstand leisten. Dies ist die Lehre aus Kundus. Die Bundeswehr darf nicht Teil eines Endloskrieges in Afghanistan sein. Sie muss unverzüglich abgezogen werden.