Annette Groth und ich haben in Kairo (15.-19.9.) und Tunis (19.-22.9.) zahlreiche Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der regierenden islamischen Parteien, der linken Opposition, der Gewerkschaften sowie Organisationen der Zivilgesellschaft führen können. Folgendes sind die wichtigsten Ergebnisse:

600 Arbeiterinnen und Arbeiter des deutschen Kabelbaumherstellers LEONI besetzen seit Juli ihr von Schließung bedrohtes Werk in Ezzahra bei Tunis. Bei unserem Besuch im Werk beeindrucken uns ihre Solidarität und der Kampfgeist.

Alle unsere Gesprächspartner haben sich positiv auf die Revolution des Jahres 2011 bezogen, infolgedessen die Diktatoren Ben Ali und Mubarak gestürzt werden konnten. Der im Westen von manchem herbeigeredete „islamische Winter“ – so etwa Scholl-Latour in „Bild“ – ist ein Zerrbild der Realität. Im Gegenteil. Die Revolution hat ein großes Potenzial an sozialem Widerstand freigesetzt. Infolge dieser Erhebungen ist es heute möglich, sich offen zu organisieren. Dies hat zu einem politischen Aufblühen an der Basis der Gesellschaft geführt. In beiden Ländern existieren neben den islamischen Parteien, die die Wahlen gewinnen konnten, zahlreiche politische Formationen der Linken, die sich verändern und neue Anhänger gewinnen. In Tunesien soll am kommenden Mittwoch die Gründung der linken Front populaire („Volksfront“) bekanntgegeben werden, die 12 Parteien der Linken vereint. In Ägypten konnte der linke Kandidat Hamdeen Sabahi in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl über 20 Prozent gewinnen. Es waren viele seiner Anhänger, die dem Muslimbruder Mursi gegen den Kandidaten der Mubarak-Anhänger Shafik zum Sieg in der zweiten Wahlrunde verholfen haben. Nicht nur Parteien blühen auf, auch viele NGOs und soziale Bewegungen. Die tunesische „Vereinigung der arbeitslosen Akademiker” hatte am Vorabend der Revolution 20 Mitglieder. Heute ist sie auf 10.000 Mitglieder angewachsen. Einer ihrer Anführer Ayari Salam sagt: „Die Revolution hat uns unsere Würde zurückgegeben.“
„Wir brauchen eine zweite Revolution“
Die sozialen Probleme, die den Revolutionen zu Grunde lag, sind ungelöst. Dies hat zu einer ausgesprochenen Ernüchterung über die regierenden islamischen Parteien in beiden Ländern geführt. Als wir in Kairo eintrafen, wurden wir Zeuge einer Streikwelle, die das Land überrollt. Die Lehrer befanden sich am ersten Schultag nach den Ferien im Ausstand, die Fahrer von Bus- und Kleinbusunternehmen, die Angestellten von Universitäten, Metallarbeiter. Nach Angaben des unabhängigen Gewerkschaftsdachverbandes EFITU gab es letzte Woche 400 Streiks im ganzen Land. Zwei Forderungen sind überall zu finden: deutliche Lohnerhöhungen und die Beseitigung von korrupten Managern, die noch in der Zeit der Diktatur eingesetzt worden sind. Ein ägyptischer Arzt verdient umgerechnet knapp 200 Euro im Monat inklusive Zulagen. Uns wurde von Landschaftspflegern erzählt, die monatlich nicht einmal auf zehn Euro kämen. Die Lohnabhängigen und Arbeitslosen haben von der Revolution Freiheit und Würde, aber auch eine spürbare Verbesserung ihrer sozialen Lage erwartet. Viele sagen, diesbezüglich habe sich gar nichts geändert. Nicht selten hörten wir den Satz: „Wir brauchen eine zweite Revolution“.
Die Gefahr einer gewalttätigen Restauration ist nicht gebannt
In Ägypten wie in Tunesien sind Armee und Polizei unverändert in der Hand jener Kräfte, die unter der Diktatur die Menschen unterdrückt haben. Wir wurden Zeuge am Kairoer Tahrir-Platz, wie unsere ägyptischen Begleiterinnen von einem Offizier der Aufstandsbekämpfungs-polizei persönlich bedroht wurden. Im „Zentrum zur Rehabilitation von Gewaltopfern“ erfuhren wir, das Folter in Einrichtungen der Polizei nach wie vor an der Tagesordnung ist. Insbesondere auf dem Sinai werden Flüchtlinge aus Afrika zu Opfern staatlicher Willkür.
In Tunis konnten wir am Freitag anlässlich der befürchteten Proteste einer kleinen salafistischen Minderheit ein martialisches Aufgebot an uniformierten und zivil gekleideten Einsatzkräften beobachten, die unter Einsatz von gepanzerten Kampffahrzeugen und Hubschrauber die zentrale Avenue Bourgiba in ein Heerlager verwandelten.
Unser Gesprächspartner von RAID, dem tunesischen Ableger von attac, äußerte die Befürchtung, der Kampf gegen den Salafismus könnte zu einem Vorwand werden, um den staatlichen Gewaltapparat zu stärken und der alten Kräfte wiederherstellen.
Deutsche Unternehmen beteiligen sich an Lohndrückerei
Während die Bundesregierung das deutsche Mitbestimmungsmodell als vorbildlich in den Ländern Nordafrikas anpreist, hintertreiben deutsche Firmen jegliche Sozialstandards. In Ezzahra, einem südlichen Vorort von Tunis, besetzen rund 600 mehrheitlich weibliche Beschäftigte seit zwei Monaten das Werk des deutschen Kabelbaumherstellers LEONI. Sie protestieren damit gegen die drohende Schließung des Werk und konnten so die Demontage der Produktionsanlagen verhindern. Während unseres Besuchs mit Vertretern der Gewerkschaft UGTT am Donnerstag erfuhren wir von Beschäftigten, dass die Schließung des Werks vor allem die Löhne drücken und die Gewerkschaft schwächen sollen. Der Bruttolohn in Ezzahra beträgt derzeit für eine Arbeiterin umgerechnet 240 Euro monatlich – immer noch mehr als am Standort in Sousse. Dort ist auch die UGTT nicht vertreten. Mehrere Mitarbeiter, die sich auf das Angebot der Firma einließen und den Standortwechselvertrag unterschrieben, wurden am neuen Standort abgewiesen.
Hassvideo empört nicht nur Muslime
Unsere Reise wurde überschattet von der Diskussion um ein in den USA produziertes neues Hassvideo im Internet, in dem Mohammed verspottet wird. Unmittelbar vor unserer Abreise hat dies zu gewalttätigen Demonstrationen vor den US-Botschaften in Kairo und Tunesien geführt. Die Demonstrationen selbst wurden von einer winzigen salafistischen Minderheit geführt, die in den Gesellschaften isoliert sind. Doch wir waren überrascht, wie genau auch die Mehrheit in Nordafrika verfolgt, wie sich die einzelnen Regierungen zur Ausstrahlung des Hassvideos stellen. Dabei können die meisten Menschen sehr genau unterscheiden. Niemand hat uns persönlich angefeindet, nur weil wir aus Deutschland kommen. Ganz im Gegenteil wurde das Gespräch gesucht. Doch auf völliges Unverständnis traf Pressemeldungen, wonach auch in Deutschland eine öffentliche Ausstrahlung drohen könnte. Das Video wurde von allen unseren Gesprächspartnern als rassistische Hetze gewertet – sowohl von gläubigen Muslimen, als auch von Säkularen und christlichen Kopten.
Wohin treiben Ägypten und Tunesien?
Alle Gesprächspartner, sowohl Oppositionelle als auch Anhänger der Regierungsparteien, bezeichneten die derzeitige Phase als eine Übergangsperiode, die von einer großen Unsicherheit über die Zukunft geprägt ist. Die Frage, wohin die Länder in Nordafrika treiben, hängt von vielen Faktoren zusammen: der Entwicklung des Widerstands zur Durchsetzung elementarer sozialer Forderungen, die Fähigkeit der islamischen Parteien zur Eindämmung dieser Bewegungen, die Formierung der neuen Oppositionskräften auf der Linken, der Stärke der auf eine Wiederherstellung eines politisch dominierenden Repressionsapparates hoffenden alten Kräfte. Unsere Verantwortung ist es, in der EU eine Politik zu betreiben, die diese Länder Nordafrikas nicht zum bloßen Reservoir für billige Arbeitskräfte und zur Schutzmauer gegen afrikanische Flüchtlinge degradiert. Dies ist unmenschlich und nützt nur den großen Unternehmen. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir jene unabhängige Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien, die die Revolution in Nordafrika vorantreiben wollen.
 
Liste der Gesprächspartnerinnen und -partner
ÄGYPTEN
Michael Bock, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kairo
Peter Senft, Sozialattaché deutsche Botschaft Kairo
Hamadeen Sabah, Präsidentschaftskandidat, vormals Partei Karama („Würde“; nasseristische Partei)
Samir Amin, Publizist und historische Führungsfigur der ägyptischen Linken
Streikende Lehrer und Metallarbeiter vor dem Parlamentsgebäude in Kairo
Aida Seif ad-Dawla, Psychologin und Geschäftsführerin des El-Nadeem Zentrums für Rehabilation von Folteropfern
Ahmad Salah ad-Din, Michael Elnemais Fawzy, Hand Adel Aly, Shymaa Mesalam: Mitglieder des Netzwerkes „Ärzte ohne Rechte” im Abbasyya Krankenhaus Kairo
Walid el-Haddad, Koordinator für auswärtige Beziehungen der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (politischer Arm der Muslimbrüderschaft)
Khaled Ahmed, Abgeordneter der verfassungsgebenden Versammlung der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (politischer Arm der Muslimbrüderschaft)
Hanan Elbadawy, Sprecherin der Frauenorganisation Bahiya Ya Masr
Hossam Hamalawy, Journalist und Blogger (arabawy.org)
 
Ahmed Nour, Revolutionärer Sozialist im Zentrum für sozialistische Studien, Giza
 
Hisham Fouad, NGO Awlad al-Ard (“Söhne der Erde”, gewerkschaftsnah)
 
Kamal Abu Aita, Vorsitzender des Dachverbandes der unabhängigen Gewerkschaft EFITU sowie drei weitere Mitglieder des Exekutivbüros der EFITU
 
Amr Adly, Ahmed Mossallem: Ökonomen der NGO „Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte“
 
Mohamed Hazem, Hazem Sherif, Ahmed Hassan: studentische Aktivisten an der German University of Cairo (GUC)
Akram Yussef, Ola Shahba: führende Mitglieder der Partei Sozialistische Volksallianz
Mamduh Habashi, Hassan Saber: führende Mitglieder der Sozialistischen Partei
 
TUNESIEN
Belgacem Ayari, stellvertretender Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes UGTT
Tahar Berberi; Generalsekretär der Föderation der Metall- und Elektroindustriearbeiter in der UGTT
Mohammad Ali, Generalsekretär der UGTT im Industriebezirk Ben Arous
Arbeiter im besetzten Werk LEONI in Ezzahra
Salem Ayari und Saida Trabelsi, Nationale Koordination der arbeitslosen Akademiker
Rached Ghanouchi, Vorsitzender der regierende Partei Ennahda
Jens Plötner, deutsche Botschafter in Tunesien
Hamma Hamami, Vorsitzender der tunesischen Arbeiterpartei POT, ehemals POCT
Prof. Jalloul Azzouna, Gründer der Volkspartei für die Freiheit und den Fortschritt PUP
Fathi Chamki, RAID (attac Tunesien)
Habib Kazdaghli, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Manouba bei Tunis
Habib Mellakh, führendes Mitglied der Hochschulgewerkschaft, Universität Manouba bei Tunis
Ahmed Brahim, Minister für Wissenschaft und höhere Bildung in der Regierung Mohammed Ghanouchi und Vorsitzender der Partei „Demokratischer und sozialer Weg“ (ehemals Ettajdid)
Jilani Hamami, Lajimi Salah, Mitglieder im Vorstand der Partei „Demokratischer und sozialer Weg“