Unser letzter Tag in Tunis ist zu Ende gegangen. Es war ein Freitag – Unsicherheit ist in der Luft. Nachdem letzten Freitag 1000 Bewaffnete die US-Botschaft gestürmt haben und die tunesische Polizei vier Angreifer getötet hat, ist die Frage offen, was heute passiert. Die Veröffentlichung der Mohammed-Karrikaturen in Frankreich kommt in der ehemaligen französischen Kolonie Tunesien nicht gut an.
Allerdings macht die Regierung anders als letztes Mal Druck auf die Polizei, unbedingt Ausschreitungen zu verhindern. So ist die Präsenz von Militär, Polizei und schwarz gekleideten Schlägertrupps der Polizei unübersehbar. Das ganze vermittelt uns aber nicht gerade ein Gefühl der Sicherheit, sind es doch gerade diese Polizeitrupps, die im zunehmenden Maße für Schikanen und Folter zuständig sind. Fathi Chamki von RAID (attac) erklärt uns: Die Regierung benutzt den Terrorismus, um den Repressionsapparat wieder aufzubauen.
Heute haben wir Treffen mit mehreren linken Parteien, Gruppen und Einzelpersonen. Alle beziehen sich positiv auf die Revolution, die ihnen die Möglichkeit gegeben hat, frei und offen zu agieren. Zugleich betonen alle, dass die sozialen Hoffnungen der Revolution noch nicht eingelöst wurden.
Die Antwort darauf ist unterschiedlich. Der Vorsitzende der aus der alten kommunistischen Partei hervorgegangenen Mitte-links-Partei Ettajdid, Ahmed Brahim, sieht seine Partei als „Stimme der Vernunft“, die mit dem „wilden Kapitalismus“ bricht. Er will mit IWF und Weltbank kooperieren, die Abhängigkeit von den internationalen Organisationen sei nun mal gegeben. Er und seine Genossen sorgen sich, dass ausländische Investoren das Vertrauen verlieren könnten.
Für Ettajdid hat die Bekämpfung der „Islamisten“, d. h. sowohl der regierenden Ennahda, als auch der gewaltsam agierenden salafistischen Gruppen, eine absolute Priorität. Zu diesem Zweck versuchen sie, eine „breite“ Front mit bürgerlichen Kräften aufzubauen. Jetzt sei die Frage „Demokratie oder Religion“. Allen anderen Fragen könne man sich nach der Wahl zuwenden.
Einen anderen Ansatz hat die POT, die „tunesische Arbeiterpartei“,  von Hamma Hamami gewählt. Sie wollen mit anderen linken Bewegungen und Aktivisten, wie Fathi Chamki von RAID, dem tunesischen attac, eine „Volksfront“ bilden. Sie beklagen, dass das Volk keinen sozialen Nutzen aus der Revolution gezogen hat. Die sozialen Widersprüche seien so stark, dass es in Sidi Bouzid, Gafsa und anderen Städten so aussieht, als könne die Situation jederzeit explodieren.
Die POT ist Teil der sozialen Auseinandersetzung, wie zum Beispiel den Streiks in der Phosphatindustrie von Gafsa. Mit einer Kampagne „Was hat sich verändert?“ thematisieren sie die alltäglichen sozialen Probleme an der Basis der Gesellschaft. Sie kämpfen für ein Schuldenerlass.
Die POT sagt, es gehe nicht um Atheismus, sondern Soziales, Gesundheit, Bildung und Menschenrechte. Ihr Engagement hat dazu geführt, dass sie verstärkt mit Repression zu kämpfen haben. Mehrere ihrer aktiven Genossen wurden verhaftet und gefoltert.
Alle unsere heutigen Gesprächspartner bezweifeln die guten Absichten der regierenden islamischen Ennahda-Partei und trauen derem umsichtigen Auftreten nicht. Und alle sind der Auffassung, dass die Revolution noch nicht beendet ist. Das es ein Potential für eine linke Perspektive gibt, zeigt die Tatsache, dass nur 1 Million Tunesier Ennahda gewählt haben, 6,5 Millionen Wahlberechtigte nicht.
Eine Möglichkeit, die Perspektiven für Bewegungen und die Linke in Tunesien zu diskutieren, wird das Weltsozialforum sein, dass im März 2013 in Tunesien stattfinden wird. Im Zentrum werden die sozialen Probleme Tunesiens, sowie die neoliberalen Strategien von EU, IWF und Weltbank stehen.
Internationale Solidarität mit der Revolution und dem Kampf um die Durchsetzung ihrer Ziele steht weiter auf der Tagesordnung.
Tunis, der 21.9.