Wir landen in Tunis. Der Unterschied zu dem 20-Millionen-Einwohner Moloch Kairo fällt sofort auf. Tunis ist sehr viel grüner und beschaulicher als die lärmende ägyptische Hauptstadt. Wir treffen uns mit Taher Berberi, dem Generalsekretär der Gewerkschaft der Metall- und Elektroindustrie und Belgacem Ayari, dem stellvertretenden Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes UGTT. Die UGTT war das Rückgrat der revolutionären Erhebung gegen die Diktatur Ben Alis im Januar 2011.
Die beiden geben uns einen Einblick in die prekären Arbeitsbedingungen in Tunesien. 20- 24 Prozent der Tunesier sind arbeitslos. Der Mindestlohn liegt bei 321 Dinar, das sind ca. 160 Euro. Der Druck der starken Arbeiterbewegung hat dazu geführt, dass die islamische Regierungspartei Ennahda, die bei den Wahlen nach der Revolution die meisten Stimmen bekommen hat, den Mindestlohn um 30 Dinar angehoben hat. 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst konnten gerade einen Zuschlag von 70 Euro im Jahr erkämpfen. Dieser Widerstand ist wichtig, denn die soziale Lage ist prekär. Arbeit ist unsicher, Leiharbeit hat dramatisch zugenommen. 20 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. Die Zahl der Armutsproteste und der Unmut darüber, dass die Regierung die sozialen Probleme nicht anpackt, ist riesig. Andauernd kommt es zu wilden Streiks und Straßenblockaden.
Auch deutsche Unternehmen spielen mit bei der Lohndrückerei in Tunesien: So der deutsche Autozulieferbetrieb LEONI, der eins von vier Werken in Tunesien schließt. Taher Berberi ist sich sehr klar, wie Dumpinglöhne in Deutschland und in Tunesien gleichermaßen schaden: „Es geht darum hier wie dort die Löhne zu drücken“. Taher Baberi kritisiert die USA und die Golfstaaten, die versuchen, Einfluss auf die neue Regierung zu nehmen: „Wir wollen Freiheit, Würde und Gerechtigkeit. Wir vergessen nicht, dass die USA jahrzehntelang Diktaturen unterstützt hat und Saudi-Arabien und Katar keine Demokratie zulassen.“

Christine Buchholz, Salem Ayari und eine Mitstreiterin, Annette Groth

Salem Ayeri ist ein schmächtiger junger Mann um die 30. Er ist seit seinem Hochschulabschluss 2004 arbeitslos. Noch unter Ben Ali hat er mit 70 anderen arbeitslosen Akademikern die Organisation „Gewerkschaft der arbeitslosen Akademiker“ gegründet. Das Regime reagiert mit Verhaftungen, bürokratischen Hürden und Repression. Kurz vor der Revolution schrumpft die Organisation auf 20 Mitglieder. Mit dem Aufstand bekommt der Kampf der arbeitslosen Akademiker neuen Schwung. Anderthalb Jahre später ist die Organisation auf 10.000 Mitglieder angewachsen, die in allen 24 Gouvernements verankert sind. Es gibt 315.000 arbeitslose Akademiker und Akademikerinnen in Tunesien. Mit dem gerade abgeschlossenen Schuljahr kamen 70.000 Leute neu dazu. 67 Prozent der arbeitslosen Akademiker und Akademikerinnen in Tunesien sind Frauen.
Salem schätzt die nach der Revolution gewonnene Freiheit. Endlich können sich Aktivisten frei bewegen und organisieren. Aber er berichtet auch, dass es weiterhin Folter gibt und dass sich die sozialen Hoffnungen nicht erfüllt haben. Viele Jugendliche versuchen, das Land zu verlassen. Meistens ohne Erfolg. Viele fliehen mehrfach nach Lampedusa und werden wieder zurückgeschickt. Salem will in Tunesien bleiben und kämpfen. Er und seine Mitstreiter versuchen, mehr arbeitslose Akademiker zu organisieren, ziehen durchs Land, halten Treffen ab und organisieren Proteste. Eine große zentrale Demonstration soll am 29. September in Tunis stattfinden. Salem sagt: „Die Bedingungen, die zu der Revolution geführt haben, haben sich nicht geändert. Wir brauchen eine zweite Revolution.“
Tunis, der 19.9.