Ich dokumentiere hier vorab einen Artikel aus dem Marx21-Magazin, Nr. 20 April/Mai 2011
Die jüngsten Wahlerfolge der Grünen waren der gesellschaftlichen Stimmung nach dem Reaktorunglück in Fukushima geschuldet. Doch sie offenbaren auch ein strategisches Dilemma der LINKEN: Wie positioniert sie sich unter einer schwarz-gelben Regierung, wenn zugleich Rot-Grün als zentrales Oppositionslager angesehen wird?
Von Christine Buchholz und Janine Wissler

„Die grüne Revolution“, titelte Spiegel Online am Wahlabend. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg hatten Bündnis 90/Die Grünen gerade ein Rekordergebnis von 24,2 Prozent der Stimmen erzielt. Ihr Spitzenkandidat Winfried Kretschmann wird voraussichtlich der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik.
Deutliche Verluste mussten hingegen die beiden Regierungsparteien CDU und FDP hinnehmen. Erstmals seit 58 Jahren ist die Union nicht mehr an der Landesregierung beteiligt. Auch die Sozialdemokratie büßte Stimmen ein.
Der Erfolg der Grünen, auch bei den zeitgleich stattfindenden Landtags- und Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz und Hessen, war zweifellos Ausdruck der gesellschaftlichen Stimmung nach dem Reaktorunglück in Fukushima. Viele, die die Partei wählten, verbanden damit die Hoffnung auf einen raschen, vollständigen Atomausstieg. In Umfragen benannten 47 Prozent die Atompolitik als „wichtigstes Problem“. Außerdem hofften die Grünen-Wähler in Baden-Württemberg auf ein Ende des Milliardengrabs Stuttgart 21 und die Abschaffung der Studiengebühren.
Die Abwahl von Ministerpräsident Stefan Mappus war ein Erfolg anhaltender, außerparlamentarischer Mobilisierungen gegen Stuttgart 21 und Atomkraft. DIE LINKE war Teil dieser breiten Bewegungen. Doch sie wurde nicht im gleichen Maße wie die Grünen als Antiatompartei und Stuttgart-21-Gegnerin wahrgenommen – und erzielte ein enttäuschendes Ergebnis: Mit 2,8 Prozent der Stimmen blieb sie weit von ihrem Ziel entfernt, in den Landtag einzuziehen.
In Baden-Württemberg wurde DIE LINKE zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb zerrieben. Viele potentielle LINKE-Wähler befürchteten, ihre Stimme zu verschenken und wählten stattdessen die Grünen. Trotzdem war es aufgrund der breiten Stimmung gegen Mappus wichtig, klarzustellen, dass die Abwahl von Mappus nicht an uns scheitern würde. Zugleich muss es uns aber eine Warnung für die Zukunft sein, dass das taktische Argument, uns zu wählen, weil wir Rot-Grün die Mehrheit sichern, allein keinen Erfolg bringt.
Anders als bei der Bundestagswahl 2009 ist es uns nicht gelungen, unsere Anhängerinnen und Anhänger sowie die Nichtwähler und Nichtwählerinnen zu mobilisieren. Diesmal stand nicht die soziale Frage im Zentrum des Wahlkampfs. Zwar demonstrierten im Juni und im November vergangenen Jahres jeweils mehr als 20.000 Menschen in Stuttgart gegen die Sozialkürzungen der schwarz-gelben Bundesregierung. Doch der von den Gewerkschaften angekündigte „heiße Herbst“ blieb aus. Sahen bei der Landtagswahl im Jahr 2006 noch 48 Prozent der Wähler Arbeitslosigkeit als „wichtigstes Thema“ an, so waren es nun nur noch 17 Prozent. In den sozialen Brennpunkten, beispielsweise im Freiburger Stadtteil Weingarten, wo 9,4 Prozent DIE LINKE wählten, stieg die Wahlbeteiligung geringer als im Landesdurchschnitt. Auch der Krieg in Libyen spielte im Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle, anders als bei der letzten Bundestagswahl, wo die Kriegsfrage durch das Massaker im afghanischen Kundus sehr präsent war.
In den Wochen vor der Wahl haben sich der voraussichtlich neue Ministerpräsident Kretschmann und sein designierter Vize, der Sozialdemokrat Nils Schmid, als Freunde der Wirtschaft präsentiert. Der baden-württembergische Arbeitgeberverband und die Industrie- und Handelskammer machten im Gegenzug unmittelbar nach der Wahl klar, dass sie von der neuen Regierung den Bau des umstrittenen Bahnhofprojekts Stuttgart 21 und eine „solide Haushaltspolitik“ erwarten. Dies steht im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Wählerinnen und Wähler. Konflikte zwischen der Regierung und der Bewegung gegen Stuttgart 21 sind vorprogrammiert.
Auch im Umgang mit der Atomkraft ist offen, ob Kretschmann und Schmid Maßnahmen wagen, die über den „Atomkompromiss“ der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder hinausgehen. Der Stromriese EnBW gehört zu 45 Prozent dem Land Baden-Württemberg und erzeugt seine Energie zur Hälfte mit vier Atomkraftwerken. Werden diese dauerhaft stillgelegt, verliert EnBW einen großen Teil seines Wertes. Das würde einen Milliardenverlust für den Landeshaushalt bedeuten. Gemeinsam mit der Anti-Atom-Bewegung wird DIE LINKE daher Druck machen müssen, damit die AKWs tatsächlich abgeschaltet werden.
Auch bei anderen Themen wie den Studiengebühren muss die grün-rote Regierung entscheiden, ob sie ihre Wahlversprechen einlösen oder sich dem Diktat der Schuldenbremse und der Haushaltskonsolidierung unterwerfen will. Ob aus dem Regierungswechsel in Baden-Württemberg ein Politikwechsel wird, hängt davon ab, ob die außerparlamentarischen Bewegungen auch ohne die Unterstützung von SPD und Grünen mobilisierungsfähig sind und welche Mobilisierungskraft DIE LINKE entwickeln kann.
Unsere Partei sollte ihre strategische Orientierung auf soziale Themen und die Frage von Krieg und Frieden beibehalten. Auch ihre Orientierung an den Interessen von Erwerbslosen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern und Studierenden sollte sie nicht aufgeben. Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei. Gerade erst Ende März sank der ifo-Geschäftsklimaindex, der die Zukunftserwartungen der deutschen Wirtschaft bemisst. Die EU hat gerade einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ beschlossen, der massive Kürzungen für Arbeitnehmer bedeuten wird. Der vermeintliche Aufschwung geht an der Mehrheit der Menschen vorbei. In Ländern und Kommunen droht aufgrund der Schuldenbremse weiterer Sozialabbau. Zugleich können wir die Energiepolitik nicht den Grünen überlassen. Ökologie ist ein wichtiges Thema – auch und gerade für Arbeitnehmer und nicht nur für Besserverdienende.
Die Antiatomproteste werden uns das ganze Jahr 2011 und darüber hinaus begleiten. Die Bewegung wird perspektivisch nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, für eine Lösung jenseits eines privaten, „grünen“ Strommarktes zu werben – nämlich für eine gesellschaftliche Kontrolle über die Stromkonzerne und Netze. Dazu müssen wir die Profite der Stromkonzerne angreifen, die Eigentumsfrage stellen und die Höhe der Strompreise in den Mittelpunkt unserer Argumentation stellen.
Ob tatsächlich alle alten Meiler stillgelegt bleiben und ob auch neuere AKWs abgestellt werden, wird von der Stärke der Antiatombewegung, aber auch von ihrer politischen Orientierung abhängen. Hier geht es um Milliardenprofite und damit ums Ganze – also letztendlich um die Systemfrage: Können wir eine glaubhafte Alternative zum Kapitalismus anbieten?
Die Konstellation in Baden-Württemberg war in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Situation bei der Bundestagswahl im Jahr 2013. Auch dort besteht die Gefahr, dass DIE LINKE zwischen dem rot-grünen und schwarz-gelben Lager zerrieben wird.
Es war und ist richtig, sich in das Lager des Widerstandes gegen Schwarz-Gelb zu stellen. Es existiert eine Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des rot-grünen Oppositionslagers und dessen tatsächlicher Politik. Auch wenn SPD und Grüne in grundsätzlichen Wirtschaftsfragen und in der Kriegsfrage mit den Konservativen und den Liberalen übereinstimmen, nehmen die meisten Menschen sie doch als linke Parteien wahr. Die Vorstellung, dass es einen neoliberalen Block von FDP bis SPD gebe, vertreten die wenigsten.
Dort, wo sich Sozialdemokraten und Grüne von der Regierung absetzen, brauchen wir ein scharfes eigenes Profil und gleichzeitig die Bereitschaft, außerparlamentarische Bündnisse gegen Schwarz-Gelb zu schließen. Das schließt den Kampf für den Mindestlohn, gegen Atomkraft und Studiengebühren, aber auch gegen Nazis ein. Auch wenn die Elemente dieses Vorgehens immer wieder neu ausbalanciert werden müssen, ist dies der einzige Weg, sich weder aus dem großen Lager gegen Schwarz-Gelb zu verabschieden, noch ein eigenes Profil aufzugeben.
DIE LINKE kann so in der Praxis die Anhänger von SPD und Grünen davon überzeugen, dass sie die besseren Vorschläge macht und entschiedener die Interessen der Wählerinnen und Wähler vertritt. In Hessen haben wir beispielsweise mit Gewerkschaften und Sozialverbänden eine gemeinsamen Kampagne gegen die Schuldenbremse organisiert. Auf diese Weise ist es uns gelungen, das soziale Profil der LINKEN im Wahlkampf zu stärken. Trotz unserer Bemühungen haben sich SPD und Grüne dem Bündnis „handlungsfähiges Hessen“ nicht angeschlossen. Aber viele ihrer Mitglieder und sogar einzelne Ortsvereine haben für ein „Nein“ zur Schuldenbremse geworben. Es ist ein Erfolg für das Bündnis und dessen Mobilisierung, dass ein Drittel der Wähler gegen die Schuldenbremse votiert hat. Das zeigt, dass es Potential für den Widerstand gegen ihre Umsetzung gibt. Diese Auseinandersetzung hat wohl auch dazu beigetragen, dass DIE LINKE in Hessen bei den Kommunalwahlen nicht eingebrochen ist.
Auch in zukünftigen Wahlen werden wir nur Erfolg haben, wenn wir ein eigenständiges Profil entwickeln, das uns für breite Schichten der Bevölkerung von Rot-Grün unterscheidbar macht.
Autorinnen
Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN.
Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag und Mitglied im Parteivorstand.