Große Wahlverliererin der Europawahl ist die europäische Sozialdemokratie, die nach heftigen Einbußen in England und Frankreich und einer Stagnation auf unterstem Niveau in Deutschland 56 Mandate verlor. Die Linke links von der Sozialdemokratie konnte davon nicht profitieren. In Italien scheiterten alle drei konkurrierend antretenden Linksparteien an der 5-Prozent-Hürde, die französische NPA von Olivier Besancenot mit 4,8 Prozent ebenfalls. Lichtblick war der Erfolg des Linksblocks in Portugal (10 Prozent). Insgesamt verlor die Vereinigte Europäische Linke 8 Mandate.
Der äußersten Rechten, allen voran Geert Wilders in den Niederlanden, der mit seiner Anti-Islam-Partei zweitstärkste Kraft wurde, gelang es, den Unmut mit der EU auf ihre Mühlen zu lenken. Die rassistische Dänische Volkspartei verdoppelte ihren Stimmenanteil und die faschistische BNP aus Großbritannien bringt zwei Abgeordnete ins Europaparlament, darunter Parteichef Nick Griffin. Auch in Osteuropa wachsen die faschistischen und rassistischen Kräfte.
Insgesamt entspricht die niedrige Wahlbeteiligung dem grundsätzlichen Problem dieser EU – sie ist ein undemokratisches Projekt des Sozialabbaus und Militarismus von oben, entsprechend gering ist das Interesse: Die CDU hat rund 1,4 Millionen Wähler verloren. Dagegen fallen die Verluste der SPD mit 100.000 Stimmen relativ klein aus. Die Partei war allerdings schon 2004 auf einen historischen Tiefstand gefallen und hat sich nicht erholt.
Diese Ergebnisse widerlegen die These, in der Krise würde die Menschen zum Gewohnten, zu den Großen drängen. Obwohl die große Koalition als handelnder Akteur die politische Bühne dominiert, verliert sie. Insofern war die Wahl auch ein Misstrauensvotum gegen die bisherige Krisenbewältigungspolitik der Regierung. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Mehrheit zwar will, dass Jobs gerettet werden, die bedingungslose Vergabe von Milliarden an Banken und Unternehmen ohne Gegenleistung aber schlicht ungerecht findet. Auch die steigende Staatsverschuldung schadet der großen Koalition – die meisten Menschen werden ahnen, bei wem das Geld wiedergeholt werden soll.
Auch der Stand des Klassenkampfes reflektiert sich im Ergebnis. Wir haben zwar einen heißen Sommer voll von Abwehrkämpfen, der große Kampferfolg mit bundesweiter Signalwirkung und damit eine ermutigende Perspektive für Widerstand von unten fehlt aber. Deshalb erhoffen viele eine Lösung von oben durch eine wirtschaftskompetente Regierung, die die Ökonomie irgendwie durch den Sturm bringt. Wirtschaftspolitik hat mit 37 Prozent die soziale Gerechtigkeit als Hauptthema abgelöst, hier liegt die CDU bei der zugeschriebenen Kompetenz weit vorne. So lässt sich erklären, dass die CDU trotz Einbruch mit 35 Prozent immerhin noch mehr Stimmen von Arbeitern bekommt als SPD (23 Prozent) und LINKE (10 Prozent) zusammen.
Deutlich gewonnen haben die FDP, der frühere CDU-Wähler zuliefen, die mit Merkels Staatskapitalismus nichts anfangen können. Insgesamt läuft es im bürgerlichen Lager auf ein Nullsummenspiel hinaus. Auch die Grünen haben zugelegt und unter jungen Leuten zwischen 18-24 Jahren sind sie mit 18 Prozent sehr stark (zum Vergleich DIE LINKE in der selben Altersgruppe: 7 Prozent). Die Verknüpfung von ökologischer und ökonomischer Krise durch die Kernbotschaft Green New Deal, die Betonung der Notwendigkeit eines qualitativen Bruchs in der Produktionsweise und eine auf Aktivismus ausgerichtete Wahlkampagne machten die Grünen stark. Interessant ist aber das Ergebnis in Hamburg: Hier haben die Grünen verloren in Folge der Koalition mit der CDU. Die Grünen können also nur aus der Opposition heraus punkten.
DIE LINKE hat leicht zugelegt, wenn man die Europawahl 2004 als Referenzpunkt nimmt. Das ist aber nur eingeschränkt aussagekräftig, weil es damals DIE LINKE noch nicht gab und die PDS angetreten war. Wer das Bundestagswahlergebnis von 8,7 Prozent oder die früheren Umfragehöhenflüge von bis zu 14 Prozent als Maßstab nimmt, ist jetzt entsprechend enttäuscht. Dabei bewegt sich das Ergebnis im Rahmen der Prognosen. Infratest-Dimap hatte DIE LINKE bei der letzten Umfrage vor der Wahl bei 7 Prozent gesehen. Welche Konsequenzen sollte DIE LINKE aus dem Ergebnis ziehen?
In den meisten öffentlichen Erklärungen wurde in der Analyse des Ergebnisses ein starker Schwerpunkt auf das „Zurückfinden zur Geschlossenheit“ und das „Ende der Flügelkämpfe“ gelegt. Natürlich waren die Angriffe und Austritte von Brie, Weckesser und Kaufmann in der heißen Phase nicht förderlich. Als Analyse, warum das Ziel von 10+X Prozent verpasst wurde, greifen sie aber zu kurz.
Auch die besonders von Weckesser, aber auch von einigen anderen vertretene Meinung, dass die Partei von „Sektierern im Westen“ mit „ultralinken Positionen“ geschwächt wird, gibt die Analyse des Ergebnises nicht her. Zum einen hat die Partei in den Westländern einschließlich Berlin-West ca. 400.000 Stimmen gewonnen, das heißt, über das 2004 von der PDS erreichte Milieu ausgegriffen. In den Ostländern inklusive Berlin-Ost hat die Linke ca. 100.000 Stimmen verloren. Zum anderen war der Europawahlkampf der LINKEN nicht linksradikal. Blaue Plakate mit „Mindestlohn europaweit“, „Freiheit, Gleichheit“ , „Raus aus Afghanistan“ oder „Rot wählen“ sind nicht ultralinks. Auch die Materialien oder die Wahlkampfreden von Oskar Lafontaine u.a. erfüllen den Tatbestand nicht – außer man qualifiziert jede Position links von der SPD als linksradikal ab. Die Debatte um den vermeintlichen Linksradikalismus der Partei in der Außendarstellung erklärt nichts, fördert aber eine Atmosphäre von Innenwendung und Schuldzuweisung.
Der Startpunkt der Analyse des Ergebnisses müssen die geänderten objektiven Umstände sein: Mit dem Ausbruch der Krise und der Hinwendung der Regierung zum Staatsinterventionismus hat sich das Umfeld für die Partei verändert. Der absolute Alleinvertretungsanspruch von anti-neoliberaler Politik ist weg und damit die Dynamik, die DIE LINKE relativ unabhängig von ihrer realen Politik und Aufstellung vor Ort auf immer höhere Werte geschoben hat.
Unter Arbeitslosen ist DIE LINKE mit 22 Prozent noch dominierend. Diese soziale Basis wird aber nicht reichen, um wirklich Kräfteverhältnisse zu verschieben. Ab jetzt muss jedes Zehntel Prozent zusätzlich dadurch erarbeitet werden, dass die Partei vor Ort in Wohngebieten, Betrieben, Schulen, sozialen Bewegungen und Initiativen Wurzeln schlägt. Das mit 10 Prozent leicht überdurchschnittliche Ergebnis unter Arbeitern weist in die richtige Richtung – es ist der Lohn dafür, dass sich DIE LINKE auf den Protesten und in den lokalen Kämpfen eingebracht hat.
Auch wegweisend sind die Ergebnisse dort, wo DIE LINKE eine systematische Basisarbeit entfaltet hat. In Berlin-Neukölln gab es einen Zuwachs der LINKEN von 3,2 Prozent. Im Norden Neuköllns (Wahlkreis 1 und 2 mit vielen Migrantinnen und Migranten) betrug der Zuwachs sogar 5 Prozent. Dieser Zuwachs ist nicht in ein paar Wochen Wahlkampf errungen worden, sondern über eine systematische Stadtteilarbeit über einen Zeitraum von zwei Jahren. In Neukölln konnte DIE LINKE über den Wahlkampf viele neue Mitglieder gewinnen und den Kreis der aktiven Mitglieder deutlich erweitern.
Ein ähnliches Bild im Hamburger Stadtteil Altona-Nord. Dort kam DIE LINKE auf 16,2 Prozent der Stimmen. Das sind 8,4 Prozent mehr als bei der letzten Europawahl. Auch hier der Schlüssel zum Erfolg: regelmäßige Präsenz durch Infostände. Eine Woche vor der Wahl gab es eine Verteilaktion der Wahlzeitung an alle Haushalte. Seit Wochen ist DIE LINKE in der Hamburger Hochhaussiedlung Osdorfer Born gegen die Mieterhöhungen durch die städtische Wohnbaugenossenschaft SAGA aktiv. Das Ergebnis: In den beiden Stadtteilen, in denen die Wohnblocks liegen, konnte die Partei zulegen – auch in absoluten Zahlen: In Osdorf und Lurup hat sich die absolute Stimmenzahl mehr als verdoppelt.
Die Partei steht in den nächsten Monaten des Bundestagswahlkampfes vor einer wichtigen gemeinsamen Aufgabe: die Mitglieder, Sympathisantinnen und Sympathisanten sowie Bündnispartner der LINKEN für gemeinsame Aktivitäten und eine ideologische und praktische Intervention in die Kämpfe gegen die Folgen der Krise, wie z.B. bei Karstadt und Woolworth oder dem Bildungsstreik,  zu gewinnen. So können wir unser Wahlziel für die Bundestagswahl erreichen und die Strukturen vor Ort aufbauen, die den Menschen helfen, Widerstand gegen die Krisenfolgen zu leisten.