Am 15. Oktober versammelten sich 200 Sozialdemokraten in der SPD-Zentrale, um Willy Brandt anlässlich seines 15. Todestags zu gedenken. Viele der Anwesenden sind vor mehr als drei Jahrzehnten wegen Brandt und seiner Reformpolitik in die SPD eingetreten. 1972, im Jahr des größten Wahltriumphs der SPD nach dem Krieg, waren es allein 153.426 gewesen.
Die Wahl des Festredners hingegen entbehrte nicht einer gewissen Ironie: Gerhard Schröder hielt die Rede. Schröders Regierungszeit hatte einen ähnlich großen Effekt auf die Mitgliederzahlen wie einstmals Brandt – nur unter umgedrehten Vorzeichen. Unter Schröder verlor die Partei 185.000 Mitglieder, seit dem Eintritt in die Große Koalition noch einmal 45.000.
Schröders Agenda-Politik hat die Partei in die größte Krise der Nachkriegszeit geführt. Neben den Mitgliedern laufen der SPD auch die Wähler weg – sie dümpelt seit Jahren unter der 30-Prozent-Marke. Kein Wunder, dass sich viele Sozialdemokraten die „gute, alte“ SPD zurückwünschen, die sie mit der Brandt-Ära identifizieren.
Woher kommt der enorme Kontrast zwischen der Regierung Brandt und der Regierung Schröder und was heißt das für die Einschätzung der SPD heute? Diesen Fragen möchte dieser Artikel nachgehen.
Die SPD im „goldenen Zeitalter“
Die Politik der SPD baut darauf auf, dass die Früchte von Wachstum und Aufschwung mittels Reformen an die Bevölkerung weitergegeben werden. Dieser Ansatz setzt natürlich Wachstum voraus, einen immer größer werdenden Kuchen, von dem die Regierung Stücke verteilen kann. Das gab es im „goldenen Reformzeitalter“ der 50er und 60er Jahre. Das „Wirtschaftswunder“ begann, die Wachstumsraten stiegen. Nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs erschien die Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger nur noch wie ein ferner Spuk.
Der Löwenanteil des steigenden gesellschaftlichen Reichtums kam jedoch bei den Unternehmern an. Der Anteil von Löhnen am Nationaleinkommen sank zwischen 1950-1960 von 34,7 Prozent auf 15,6 Prozent, während der Anteil der Profite entsprechend stieg. Doch aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums verbesserte sich der Lebensstandard der Bevölkerung trotzdem spürbar. Die Grundpfeiler des Sozialsystems, die Schröder mit der Agenda 2010 attackiert hat, wurden in der Nachkriegszeit gelegt – und das unter einer CDU-Regierung.
Bei der Bundestagswahl 1969 erreichten SPD und FDP erstmals zusammen die Mehrheit der Bundestagsmandate und bildeten nun die Regierung. Die SPD, die bis dahin Juniorpartner einer Großen Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger war, stellte mit Willy Brandt zum ersten Mal nach dem Krieg den Regierungschef. Es begann die Reformphase der sozialliberalen Koalition. Die Reformen in der Anfangsphase der Brand-Regierung waren, anders als Schröders Agenda 2010-Politik, echte Reformen, die eine wirkliche Verbesserung des Lebensstandards der lohnabhängig Beschäftigten brachten.
Die Einführung des Bafög für Schüler und Studierende öffnete die Hochschulen für Arbeiterkinder. Die Regierung schaffte die drei Karenztage für Arbeiter bei der Lohnfortzahlung im Krankhausfall ab. Das Renteneintrittsalter wurde auf 63 bei Männern und 60 bei Frauen gesenkt. Der Mieterschutz wurde massiv ausgebaut. Dazu kamen die größten tariflichen Lohnerhöhungen der Nachkriegszeit.
Den sozialen Reformen gingen Hand in Hand mit einer politischen Liberalisierung. Durch eine Reform des Strafgesetzbuches wurde 1973 die Strafbarkeit der Homosexualität eingeschränkt. Brandt verfügte eine Amnestie für über 1.000 Strafverfahren gegen Studenten, die während der 68er-Revolte ins Fadenkreuz der Justiz geraten war.
Außenpolitisch setzte Brand die „Neue Ostpolitik“, die Normalisierung des Verhältnisses zur DDR, gegen den erbitterten Widerstand der CDU/CSU durch.
Angesichts dieser Bilanz ist es kein Wunder, dass Brandt in und außerhalb der SPD fast mystisch verklärt wird. Dabei galt Brandt während seines politischen Aufstiegs in der SPD in den 50er und 60er Jahren gar nicht als Linker.
So sind die Ursachen des Reformaufbruchs unter Brandt auch nicht in der Person des Kanzlers selbst zu finden, sondern in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese waren ab 1969 ideal für eine linke Reformpolitik. Soziale und politische außerparlamentarische Kämpfe hatten die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeiterklasse verschoben. Auf die Studentenproteste 1968 war 1969 eine große Welle von teilweise wilden Streiks gefolgt. Die Politisierung der Studenten sprang über auf die Lehrlinge und fand Ausdruck in einer großen Lehrlingsbewegung. Die ungeheure Popularität von Brandts Wahlprogramm mit den Kernpunkten Frieden und innere Reformen war Ausdruck dieser Kräfteverschiebung – Brandt war von der Bewegung an die Macht gespült worden.
Zu diesen politischen kamen günstige ökonomische Rahmenbedingungen: Das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttoinlandsproduktes betrug von 1969 bis 1974 5,2 Prozent. Damit waren auch ohne zusätzliche Besteuerung der Reichen, ihrer Vermögen und Profite, Sozialreformen finanzierbar.
Die politische Defensive des Kapitals beeinflusste seine Zahlungswilligkeit, die ökonomische Situation seine Zahlungsfähigkeit.
Willy Brandts fulminanter Wahlsieg von 1972 drückte die optimistische Stimmung in der Arbeiterschaft aus. Brandt überflügelte die CDU mit 45,8 Prozent. Die SPD brach massenhaft Angestellte und katholische Arbeiter in einem „Wahlkampf gegen die Millionäre“ von der CDU los, die Jugend strömte in die Partei hinein.
Von Brandt zu Schmidt
Aber schon bald sah sich Brandt gezwungen die Reformhoffnungen zu dämpfen und zum „Maßhalten“ und „härter arbeiten“ aufzurufen. „Wer nur neue Forderungen stellt, kann nicht erwarten, ernst genommen zu werden“, sagte er im Januar 1973.
Grund war, dass sich die Unternehmer wieder sammelten und anfingen, Druck auf die Regierung auszuüben. 1974 setzte sich Brandt persönlich für Lohnzurückhaltung ein und lehnte deutliche Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst ab. Die Gewerkschaft ÖTV aber stand derart unter Druck der eigenen Basis, dass sie in einem Streik eine Lohnerhöhung von elf Prozent durchsetzte. Brandt war nicht in der Lage und wohl auch nicht willig, eine selbstbewusste Arbeiterbewegung in die Schranken zu weisen. Für das Kapital war klar: Der muss weg. Doch gestürzt wurde Brandt nicht durch die Unternehmer selber, sondern durch den rechten Flügel der eigenen Partei. Der profilierte Parteirechte Helmut Schmidt begann gemeinsam mit Fraktionschef Herbert Wehner offensiv für einen Kurswechsel zugunsten einer unternehmerfreundlicheren Politik einzutreten und Brandt zu demontieren. Der von der Regierung verlorene Lohnkampf war die innere Ursache für Brandts Rücktritt im Mai 1974, die Spitzelaffäre um den DDR-Spion Günter Guillaume lieferte den Anlass. Wehner und Schmidt waren lange vor Brandt vom Verfassungsschutz über Guillaume informiert worden. Sie ließen Brandt absichtlich in Unkenntnis und trieben ihn zu seinem Rücktritt.
Die SPD-Parteiführung opferte ihre populärste Führungspersönlichkeit, um es sich mit dem Kapital nicht zu verderben – ein Umstand der zeigt, wie fest die Unternehmer die SPD im Griff haben.
1974 wurde Helmut Schmidt Kanzler. Im selben Jahr brach die erste weltweite Wirtschaftskrise seit dem Krieg aus. Das reale Wirtschaftswachstum sank, die Arbeitslosigkeit explodierte auf über eine Million – nach Jahrzehnten von Vollbeschäftigung ein Schock.
Der sozialdemokratischen Politik, die Wirtschaftswachstum als Grundlage aller Reformen verstand, war damit der Boden entzogen. Schmidt erteilte Reformansprüchen eine deutliche Absage: „Angesichts der Weltwirtschaftskrise kann der Akzent nicht mehr auf Reformen oder gar moralische Zukunftshoffnungen liegen.“
Staatliche Investitionen sollten nach der sozialdemokratischen Lehre helfen, die Konjunktur wieder in den Gang zu bringen. Die Nettokreditaufnahme des Bundes verdreifache sich von 1974-75. Mit diesem Geld wurde jedoch nicht der private Konsum der unteren Schichten gestützt oder der Ausbau des Sozialstaats betrieben, sondern versucht, die Unternehmer zu mehr Investitionen zu bewegen. Dazu sollten Investitionszulagen, die Übernahme von Lohnkosten und Steuererleichterungen für die Industrie dienen.
Gleichzeitig kassierte Schmidt bei Arbeitern und Angestellten wieder ein, was er den Unternehmern vorher gegeben hatte. Um die hohe Verschuldung abzubauen, kürzte er 1976 das Arbeitslosengeld und bei der Ausbildungsförderung. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und anderer Verbrauchssteuern traf besonders die Arbeitnehmer als Konsumenten.
Schmidt war von Reformen zu Gegenreformen übergegangen. Viele Sozialdemokraten hatten die Hoffnung, dass dies nur eine kurzzeitige Notwendigkeit sei bis „die Wirtschaft wieder läuft“.
Diese Hoffnung schien sich zu erfüllen. 1978-80 legte die Regierung Schmidt ein neues „Zentrales Investitionsprogramm“ (ZIP) auf, ähnlich wie 1975, nur größer und längerfristig angelegt. Erneut wurde die staatliche Nachfrage nach Investitionsgütern angekurbelt. Das reale Wachstum beschleunigte sich wieder auf 4,2 Prozent. So entstanden innerhalb von zwei Jahre über 900.000 Arbeitsplätze.
Doch die zweite große weltweite Rezession machte diese Anstrengungen ab 1980 wieder zunichte. Das Wachstum brach erneut ein und die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich auf zwei Millionen. Weil die Angst vor Arbeitslosigkeit die Belegschaften lähmte, sanken die Reallöhne deutlich. Besonders schlimm für das Exportland BRD: Der Inflation stieg, die D-Mark wurde um 8 Prozent aufgewertet, der Export brach massiv ein.
Das Ende – die Wende
Nun brachen in der SPD-Regierung alle Dämme. Panikartig wurden alle Lehrbuchgrundsätze sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik über Bord geworfen. Statt wie zuvor die Krise mit Nachfrageankurbelung durch höhere Staatsausgaben zu bekämpfen, senkte die SPD mitten in der Krise die Staatsverschuldung. Erneut setzte Schmidt bei seiner Sparpolitik unten an. Gekürzt wurde unter anderem beim Arbeitslosengeld, bei ABM, der Ausbildungsförderung, beim Kindergeld, in der Behinderten- und Altersversorgung. Oberstes Ziel war, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie wieder herzustellen.
Diese Abkehr von sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik Anfang der 80er folgte keiner vorgefertigten Theorie, sondern war eine pragmatische Reaktion auf die neuerliche Krise. Theoretisiert wurde diese Politik erst später – von Fritz Scharpf, einem Vordenker der so genannten „Modernisierer“ in der SPD: „Anders als in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten gibt es derzeit keine plausible keynesianische Strategie, mit der im nationalen Rahmen die sozialdemokratischen Ziele verwirklicht werden könnten, ohne dass dadurch die Funktionsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie verletzt werden.“ Aus dieser an sich richtigen Analyse wurden – aus sozialdemokratischer Sicht – allerdings selbstmörderische Konsequenzen gezogen. Scharpf fordert die Partei auf, eine „auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtete (…) sozialdemokratische Angebotspolitik“ zu entwickeln. Eine solche „sozialdemokratische Angebotspolitik“ müsse „immer die Einkommensposition der Klasse der Kapitalbesitzer im Verhältnis zur Klasse der Arbeitnehmer“ begünstigen.
Als Scharpf diese Schlussfolgerungen zog, befand sich die SPD bereits wieder in der Opposition. Die Unternehmer, die Schmidt lange als „richtigen Mann in der falschen Partei“ gelobt hatten und mit dessen Sparpolitik einverstanden waren, hatten angesichts der Wirtschaftskrise eine noch deutlichere Politik zu ihren Gunsten gefordert.
Schmidts Koalitionspartner FDP wollte weitergehende Kürzungen, so etwa die des Arbeitslosengeldes auf 50 Prozent des letzten Nettoeinkommens und die Abschaffung des Mutterschaftsurlaubsgeldes.
Das konnte selbst Schmidt der eigenen Partei nicht mehr zumuten. Im Oktober 1981 beendet ein Misstrauensvotum die 16-jährige Regierungszeit der SPD. Als Schmidt 1982 aus dem Amt ausschied, hinterließ er eine tief enttäuschte Arbeiterbasis. Bei der Bundestagswahl im selben Jahr enthielten sich viele Arbeiter der Stimme, zwei Millionen liefen sogar ins Lager der CDU über. Die Ära Kohl begann.
Die SPD hatte gedacht, eine Wirtschaftspolitik entwickelt zu haben, mit der sie den Kapitalismus samt seiner Krisen fest im Griff habe. Das Gegenteil war der Fall: Der Keynesianismus zerschellte an den Klippen der kapitalistischen Krise.
Schröder und Brandt – ein Vergleich
Es blieb der nächsten SPD-geführten Regierung unter Gerhard Schröder vorbehalten, zu zeigen, was Scharpfs „sozialdemokratische Angebotspolitik“ in der Praxis bedeutet. Die Politik der „Agenda 2010“ ist nichts anderes als eine Radikalisierung der von Scharpf entwickelten Konzepte.
Die Radikalität der Agenda 2010 liegt nicht in der persönlichen Bösartigkeit Gerhard Schröders begründet, sondern in den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Das durchschnittliche Wachstum der deutschen Wirtschaft betrug 1969-1974, also zu Brandts Zeiten, 5,2 Prozent. Das war die Basis für die Politik eines Klassenkompromisses.
In der Regierungszeit Schröders von 1998-2005 lag es bei mageren 0,9 Prozent. Die deutsche Wirtschaft geriet, vor allem im Vergleich zur stetig über 5 Prozent wachsenden US-Wirtschaft, immer weiter ins Hintertreffen. Daraus resultierte ein gewaltiger Druck des Kapitals auf die Regierung, den „Reformstau“ aufzulösen. Anfang 2003 herrschte angesichts des bevorstehenden Einmarsches der USA in den Irak eine regelrechte Panikstimmung unter den deutschen Unternehmern. Sie fürchteten, das jetzt, wo die US-Regierung ihre militärische Macht einsetzt, um durch den direkten Zugriff auf die Schlüsselressource Öl ihre ökonomische Position auszubauen, der Rückstand unaufholbar würde.
Die Agenda 2010, von Schröder eine Woche vor dem Angriff auf den Irak verkündet, ist die Antwort auf diese Befürchtungen gewesen. Sie sollte die deutsche Wirtschaft auf Kosten der lohnabhängig Beschäftigten aus der Stagnation hieven, das ökonomische und damit politische Gewicht Deutschland erhöhen. Dass Deutschland wieder den Titel des Exportweltmeisters trägt, ist Folge der gestiegenen Ausbeutungsrate in der Exportindustrie durch Umstrukturierungen, Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Hartz IV war das Druckmittel, um diese Restrukturierung gegenüber den Belegschaften durchzusetzen.
Die wirtschaftliche Krise hat dem Klassenkompromiss den Garaus gemacht. Wir erleben stattdessen eine scharfe Klassenpolarisierung, die sich vor allem in Angriffen von oben äußert. Für das Kapital war die Sozialpartnerschaft gestern, die Agenda 2010 ist heute und die Fortsetzung der Agenda bis zur vollständigen Schleifung des Sozialstaats soll das Morgen sein.
Dass Schröder die Agenda 2010 durchsetzen konnte, verweist auf einen zweiten fundamentalen Unterschied zur Brandt-Ära: Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich eindeutig zugunsten des Kapitals verschoben. Zu Brandts Zeiten herrschte Vollbeschäftigung, entsprechend groß war das Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse. Zu dieser ökonomisch starken Ausgangsposition kam der politische Aufbruch von 68, der den Klassenkampf zusätzlich befeuerte.
Unter Schröder hingegen sank die Arbeitslosigkeit nie unter die Marke von vier Millionen und stieg 2004 sogar auf fünf Millionen an. Das lähmte die Kampfbereitschaft in den Betrieben und hat zu einem steten Mitgliederschwund in den Gewerkschaften geführt. Der Anstieg der Streikzahlen dieses Jahr und der Erfolg politischer Mobilisierungen wie zum G8-Gipfel in Heiligendamm sind ermutigend. Doch von einer Situation wie ab 1969, wo die Bewegung die Regierung zu immer weitergehenden Reformen trieb, sind wir offenkundig weit entfernt. Erste Aufgabe heute ist vielmehr, die Gegenreformen der Regierung und die Übergriffe der Unternehmer in den Betrieben abzuwehren.
Einige Schlussfolgerungen
Die Ausgangsfrage dieses Artikels war, worin der Unterschied zwischen den Regierungen Brandt und Schröder bestand und was das für die Zukunft der SPD bedeutet. Brandts Reformpolitik fand unter den Bedingungen eines Aufschwung und einer starken Arbeiterbewegung statt. Schröder leitete seine Gegenreformen in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation mit einer deutlich geschwächten Arbeiterbewegung ein. Das heißt, entscheidend für eine Beurteilung der Entwicklung der SPD sind die erwarteten ökonomischen Rahmenbedingungen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.
Zur Ökonomie: Die optimistischen Prognosen gehen von einem ungebremsten Wachstum der Weltwirtschaft in den nächsten Jahren aus, an dem die deutsche Wirtschaft mit Wachstumsraten von 2,5 bis 3 Prozent teilhaben wird. Das sind Wachstumsraten, wie sie auch momentan bestehen. Selbst unter diesen Bedingungen ist die SPD-Führung, inklusive Kurt Beck, nicht bereit, die Agenda 2010 zurücknehmen. Eine Senkung des Renteneintrittsalters oder eine massive Besteuerung von Konzernen zum Ausbau sozialstaatlicher Leistungen stehen in der SPD überhaupt nicht zur Debatte.
Die Optimisten unter den Ökonomen sind momentan die Minderheit. Der Nobelpreisträger für Ökonomie Joseph Stiglitz und selbst die Chefvolkswirte des Internationalen Währungsfonds (IWF) halten folgendes Szenario für wahrscheinlicher: Die Krise am US-Immobilienmarkt zieht eine schleichende Krise des US-Banksystems nach sich. Die US-Konjunktur kühlt merklich ab, mit globalen Folgen. Das weltweite Wachstum sinkt – in Europa aber auch in Ländern wie China, das den Großteil seiner Waren in die USA exportiert. Besonders betroffen von dieser Entwicklung: Der Exportweltmeister Deutschland.
Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was dieses Szenario für die politische Situation hier bedeutet: Die Unternehmer geben ihre Zurückhaltung auf und fordern vehement ein „Ende der Reformpause“ und die Fortführung der Agenda-Politik in noch brachialerer Form. Die SPD wird unter massiven Druck des Kapitals geraten. Es gibt kein einziges historisches Beispiel davon, wie die SPD einem solchen Druck widerstanden hat – zu sehr ist sie im Kapitalismus verwurzelt. Unter den gegebenen Bedingungen geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass die SPD sich in eine Partei verwandelt, die für ein Programm sozialer Reformen wie unter Willy Brandt einsteht.
Trotzdem lohnt für die LINKE ein Rückblick auf die Brandt-Zeit, denn sie beinhaltet eine wichtige Lehre: Eine erfolgreiche Reformpolitik setzt eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiterbewegung voraus. In Zeiten ökonomischer Krise gilt das umso mehr. Eine solche Verschiebung fällt nicht vom Himmel, sondern muss Schritt für Schritt durch gesellschaftliche Kämpfe errungen werden. Das ist ein langer und harter Weg – aber der einzig gangbare.
Hintergrund: Die Ursachen des Nachkriegsbooms
Theoretiker in der SPD schreiben den Boom bis heute einer Politik zu, die unter dem Namen „Keynesianismus“ bekannt wurde. John Maynard Keynes war ein englischer Wirtschaftswissenschaftler, der argumentierte, die wirtschaftlichen Krisen des Kapitalismus seien durch staatliche Eingriffe zu lösen.
Tatsächlich spielte der Staat eine wichtige Rolle beim Nachkriegsboom – doch anders als die SPD-Vordenker dachten. Nicht staatliche Planung in Deutschland, sondern der irrwitzige Rüstungswettlauf zwischen der USA und der UdSSR trug den langen Boom.
Staatliche Investitionen füllten die Auftragsbücher der Kriegsindustrie wie zu besten Weltkriegszeiten. In den USA gingen 16 Prozent des Staatshaushalts in Rüstungsaufträge und das Militär.
Die Rüstungsausgaben waren allerdings ungleich verteilt. Da Deutschland und Japan als Weltkriegsverlierer mit strengen Rüstungsauflagen viel geringere militärische Ausgaben hatten als die USA oder die UdSSR, konnten sie ihre zivile Industrie schneller aufbauen. So eroberten sie neue Bereiche des Weltmarkts, während vor allem die USA zurück fielen.
Das zwang die Großmächte dazu, ihre Rüstungsausgaben zu senken. Die USA drosselten sie 1970 massiv. Prompt kam es 1974 zur ersten Wirtschaftskrise seit dem Krieg. An der Regierung damals: die SPD.
Zur Autorin / Zum Autor:
Christine Buchholz ist Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstands von DIE LINKE. Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.
Erschienen in marx21, November 2007